Der verwaiste Thron 02 - Verrat
lassen, als sie auf die Nische zuging. Darin war es dunkel. Das Kerzenlicht reichte nicht so weit.
Ana sank in die Hocke. Sie ertastete Stoff, dann eine Hand. Die Haut fühlte sich klamm an. Vorsichtig beugte sie sich über den Körper, berührte Haut, Haare, dann Lippen. Die Frau seufzte leise im Schlaf. Eine Wolke aus Alkohol und Essig hüllte Ana ein. Sie presste sich die Hand vor Mund und Nase und hätte beinahe gewürgt.
»Lebt sie noch?«, fragte Horouz. »Wir haben schon eine Weile nichts mehr von ihr gehört.«
»Ich kannte mal einen Matrosen, der auch den ganzen Tag nur gesoffen hat«, sagte Nungo'was. »Ist eines morgens einfach umgefallen und nie wieder aufgestanden.«
Seine Worte gingen im Rauschen von Anas Gedanken unter. Auf Knien wich sie zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß.
»Drei Tage hat er an Deck gelegen«, fuhr Nungo'was fort, »dann war er tot. Seine Haut war so gelb wie getrocknetes Seegras. So was habe ich noch nie gesehen.«
Ana biss sich auf die Lippen, kämpfte gegen die Panik an, die in ihr aufstieg, und gegen die Erinnerungen an schlagende Türen, heisere Schreie und essigsauren Atem.
Mit aller Kraft konzentrierte sie sich auf ihre Gedanken und auf die Frage, wie sie entkommen konnten, bevor der Nachtschatten, mit dem sie sich die Zelle teilten, erwachte.
Kapitel 6
Auf dem Großen Fluss erzählt man sich die Legende des Traurigen Gottes. Der Fluss, so heißt es, würde von den Tränen genährt, die über die Wange des Traurigen Gottes fließen. An dem Tag, an dem der Gott erstmals glücklich ist, wird der Große Fluss versiegen, und nichts wird mehr sein wie zuvor.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 1
Das Lager nahm fast die halbe Insel ein. Gerit wusste das, weil er den Rest des Tages damit verbracht hatte, die Insel zu umrunden. Die Flöße und Boote, auf denen die Nachtschatten Gomeran verlassen hatten, lagen in einer Bucht im Norden. Dahinter erstreckte sich das Lager, eine unübersehbare Masse aus Zelten, Unterständen und Erdlöchern. Einige große Bäume dienten als provisorische Wachtürme. Gerit wusste, dass Korvellan nicht zufrieden mit dieser Lösung gewesen war, aber es gab nur wenige große Bäume auf der Insel, und ihr Holz wurde für die Reparatur der Flöße benötigt.
Zwischen den Dünen endete das Lager. Südlich davon gab es nicht mehr viel, nur Felsen, Sand, Vögel und ein winziges Dorf, das aus einer Anlegestelle und ein paar Schilfhütten bestand. Einbaumboote mit Masten und Auslegern lagen am Strand. Aufgespannte Netze umgaben das Dorf wie ein Zaun. Gerit nahm an, dass es nicht ständig bewohnt wurde, sondern Fischern, die weit rausgefahren waren, als Unterkunft diente. Er hatte einige Menschen vor den Hütten gesehen, war aber nicht näher herangegangen. Wahrscheinlich hätten sie ihn ohnehin für einen Nachtschatten gehalten und wären geflohen.
Mit Einbruch der Dunkelheit war er ins Lager zurückgekehrt. Während des Tages hatte er oft an Somerstorm gedacht, sogar ein wenig geweint, aber nun waren seine Gedanken geordnet. Er fühlte sich stärker als am Morgen und ruhiger.
»Hast du was für mich?«, fragte er Perres, einen Nachtschatten, der auf den Hinterläufen vor seinem Zelt saß und mit einem umgedrehten Speer in einer Kochgrube stocherte.
Perres winkte ihn mit der freien Hand heran. »Der General bekommt wohl nicht genug von meinem Fisch«, sagte er mit deutlichem Stolz. »Setz dich. Ist gleich fertig.«
Gerit hockte sich neben ihn. Er spürte auf seinem Gesicht die Hitze der Holzkohle, die rot in der Grube glomm. Fische lagen eingerollt in Lehm und Seerosenblättern darin. Die Mücken, die mit jeder Dämmerung kamen und wie eine Wolke über dem Lager schwebten, ließen ihn am Feuer in Ruhe.
»Ich behalte immer ein paar Fische für den General zurück«, sagte Perres. Niemand hatte ihn zum Koch ernannt. Er hatte einfach angefangen, die Beute, die andere gemacht hatten, zuzubereiten. Andere taten das auch, mal mehr, mal weniger erfolgreich. So war es mit allem im Nachtschattenlager: Es gab keine Vorgesetzten, die Holzsammler, Fischer oder Jäger einteilten, und trotzdem gab es immer genug Holz und immer genug Nahrung. Jeder trifft Entscheidungen , sagte Korvellan jedes Mal, wenn Gerit ihn darauf ansprach. Mehr gehört nicht dazu.
»Morgen geht's endlich weiter.« Perres kratzte mit dem Speer über die harte Lehmkruste eines Fischs. »Zuerst über den Großen Fluss,
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