Der verwaiste Thron 02 - Verrat
Antwort, sondern griff nach dem Krug und schüttete Tee in eine ohnehin noch halb volle Tasse. »Ana Somerstorm«, sagte sie währenddessen. »Ana Somerstorm. Die Reichen und Mächtigen würden mich gut für dich bezahlen.« Sie stellte den Krug ab. »Oder für deinen Kopf.«
Ana verdrängte den Gedanken an ihr Versagen. Das Geplänkel war vorbei, die Verhandlungen hatten begonnen, genau so wie sie es auf den Dutzenden von Sklavenmärkten erlebt hatte, zu denen ihr Vater sie mitgenommen hatte. »Dort lernst du etwas fürs Leben«, hatte er stets gesagt, wenn sie ihn nicht hatte begleiten wollen. Er hatte nicht geahnt, wie recht er damit gehabt hatte.
»Wie wollen dich deine Reichen denn bezahlen, ohne das Gold meines Vaters – ohne mein Gold?«, fragte sie mit all der Arroganz, die sie aufbringen konnte.
Erys lächelte. »Sie würden mir alles geben, was sie besitzen.« Sie hob die Hand, als Ana widersprechen wollte. »Du bist ein Stachel in ihrem Fleisch. Solange du lebst, sind alle an ihre Allianzen mit Somerstorm gebunden. Wenn sie wüssten, dass du hier bist, würden sie mit ihren Armeen einrücken, um dich zu töten.« Ihre Mundwinkel zuckten. »Oder dich zu heiraten.«
Ana schüttelte den Kopf. »Ich bin Rickard von Westfall versprochen.«
»Rickard ist tot.«
»So heißt es, aber wer weiß, ob das stimmt. Und selbst wenn, wäre seine Mutter, die Fürstin, an diese Verbindung gebunden. Sie würde die alten Gesetze niemals brechen.«
»Du bist jung. Es ist dein Recht, so zu denken.«
Erys' Blick glitt so kurz über den Wandteppich, dass es Ana beinahe entgangen wäre. Warum tut sie das? , fragte sie sich unwillkürlich, wenn sie den Teppich doch jeden Tag und jede Stunde betrachten kann.
»Aber ich bin es nicht«, fuhr Erys nach einem Schluck Tee fort, »deshalb sehe ich die Dinge, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollten.«
Etwas raschelte in den Schatten. Ana drehte den Kopf, konnte jedoch nichts sehen.
»Beachte es nicht«, sagte Erys. Sie schob die Teetasse zur Seite und stand auf. An einem der Fenster blieb sie stehen. Sie drehte Ana den Rücken zu. »Also was willst du?«
»Eine Eskorte nach Westfall. Bring mich sicher dorthin, dann wirst du mehr Gold erhalten, als du dir je erträumt hast.«
»Und woher soll dieses Gold kommen?« Erys' Stimme klang nicht unfreundlich, aber Ana wünschte sich, ihr Gesicht sehen zu können.
»Aus Somerstorm«, sagte sie, wohl wissend, wie naiv sie klingen musste. »Sobald wir es zurückerobert haben. Und auch Westfall wird dich natürlich belohnen.«
Schweigen antwortete ihr. Ana zögerte. Ihr Herz schlug schnell, der Tee brannte in ihrer Kehle.
Sie spürte, dass Erys auf etwas wartete, wusste jedoch nicht, auf was. Was will sie von mir? Sie warf einen weiteren Blick auf den Wandteppich, auf den arrogant lässigen Herrscher auf seinem Thron und das Gesicht in den Schatten. Beim ersten Betrachten hatte der Ausdruck dieses Gesichts neugierig auf sie gewirkt, so wie das eines Kindes, das heimlich einen verbotenen Ort aufsucht.
Doch nun bemerkte sie, dass keine Neugier in diesem Blick lag, sondern Sehnsucht und Schmerz. Das Gesicht in den Schatten sehnte sich nach dem Licht.
»Und natürlich«, fügte Ana hinzu, so als habe sie nie etwas anderes in Betracht gezogen, »würde die Person, die sich als Erste an meine Seite stellt, etwas Besonderes erhalten, einen Titel und eine eigene Provinz und vielleicht, wenn sie es wünscht, die Ehe mit einem Fürsten von altem Blut.«
Einen Moment lang sagte Erys nichts, dann wandte sie sich vom Fenster ab. »Komm, die anderen sollen hören, was du zu sagen hast. Ohne sie kann ich nichts entscheiden.«
Ana stand auf. Die Nervosität, die sie spürte, war wie ein Schwindel. Die Verhandlungen waren noch nicht vorbei, ihr Leben noch nicht außer Gefahr.
Es raschelte erneut. Aus den Augenwinkeln nahm Ana eine Bewegung wahr. Erschrocken wich sie zurück, als sich ein Gesicht aus den Schatten schob. Ihre Kniekehlen stießen gegen den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte.
»Da ist jemand!«
»Natürlich.« Erys zog die Tür auf. Kühle Nachtluft floss in den Raum wie Wasser. »Es ist immer bei mir. Beachte es nicht.«
Der Mann, der aus den Schatten trat, war barfuß. Die Lederrüstung, die er trug, war fleckig, das Leder an vielen Stellen gebrochen. Er war glatzköpfig mit eingefallenen Wangen und einem offen stehenden, zahnlosen Mund. Leblose Augen blickten durch Ana hindurch. Sie wich weiter zurück, Erys und der
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