Der verwaiste Thron 02 - Verrat
Die Gespräche der Frauen verstummten.
»Ihr habt lange genug geredet. Sagt mir eure Meinung. Sollen wir Ana Somerstorm nach Westfall begleiten oder nicht?«
Die Frauen sahen einander an, dann stand eine von ihnen von ihrem Stuhl auf. Es war jene Frau, die den Überfall auf Anas Karawane angeführt hatte. Ihr Name war Nilay.
»Wir verstehen nicht«, begann sie, »warum wir das tun sollten. Hast du nicht selbst gesagt, dass wir Srzanizar verlassen müssen? Ich habe erlebt, wie unverschämt die Stadtwache geworden ist, und Darna hat Gerüchte gehört, dass Söldner kommen sollen, um uns zu töten.«
Einige andere Frauen nickten. Angestachelt von der Zustimmung fuhr Darna fort. Ihre Stimme wurde lauter. »Wir überfallen mehr Karawanen als je zuvor und riskieren unser Leben, damit wir genug Geld bekommen, um Land im Süden zu kaufen und wie ehrbare Bürgerinnen zu leben, und das willst du alles aufs Spiel setzen für dieses Mädchen?«
»Wir sollten sie verkaufen und abhauen«, rief eine dicke Frau, die mit tränenden Augen Zwiebeln schälte. »Sie ist wertvoller als all die anderen Sklaven zusammen.«
Erys neigte den Kopf und trat näher an Ana heran. Abgesehen von Nilay waren sie die Einzigen im Raum, die standen. Die anderen saßen auf Stühlen, Decken oder auf dem Boden. Purro, der Mann mit dem vernarbten Bauch, hockte auf der Theke. Er sah durch die offene Tür in die Nacht hinaus, so als ginge ihn das alles nichts an.
»Ana?«, fragte Erys. »Was möchtest du dazu sagen?«
»Ich …« Ana zögerte. Die Blicke der Frauen richteten sich auf sie. Vergeblich suchte sie nach einem freundlichen Gesicht. »Ich denke, dass ihr mehr davon habt, mich zu begleiten. Westfall wird euch belohnen, und der Dank der Fürstin … Vielleicht verzeiht sie euch sogar eure …«
Einige der Frauen wandten sich ab. Diejenige, die Zwiebeln geschält hatte, stand auf und nahm einen Topf aus einem Regal an der Wand. Sie wirkten gelangweilt, fast schon feindselig.
Ana unterbrach sich. Erys hätte selbst auf die Einwände der anderen Banditinnen antworten können, aber sie hatte es nicht getan. Warum nicht?
Weil ich etwas habe, das ihr fehlt. Weil sie das Gesicht in den Schatten ist.
Sie räusperte sich. »Nilay, wie viel Gold habt ihr gesammelt? Einen Ochsenkarren voll?«
Ein paar Frauen lachten. Nilay verdrehte die Augen, als sei allein die Vorstellung eines Ochsenkarrens voller Gold lächerlich. »Natürlich nicht.«
»Dann einen halben?«
»Nein.«
»Einen Handkarren voll?«
»Nein.« Nilay klang auf einmal ärgerlich. »Was sollen diese albernen Fragen? Niemand hat so viel Gold.«
Ana machte einen Schritt auf sie zu. Ihre Knie waren weich, aber ihre Stimme war fest. »Die große Mine in Somerstorm fördert täglich zwanzig Ochsenkarren voller Gold. Jede Münze, die du in deinem Leben in die Hand genommen hast, stammt aus dieser Mine. Kannst du dir das vorstellen?«
Sie ließ Nilay keine Zeit, um über eine Antwort nachzudenken. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass die dicke Frau neben dem Regal stehen geblieben war, den Arm halb nach dem Topf ausgestreckt.
»Nein?«, fragte sie weiter. »Weißt du, woran das liegt? Weil du Nilay bist und denkst wie Nilay. Du sorgst dich um ein paar barfüßige Bauern, denen ein Fürst Speere in die Hand gedrückt hat, und um ein bisschen Land im Süden, auf dem du bis ans Ende deiner Tage schuften müsstest.«
Sie sah die anderen Frauen an. »Aber ich bin Ana Somerstorm, und ich denke wie Ana Somerstorm. Mein Vater hat Kriege gewonnen, und sein Blut fließt in meinen Adern. Ich werde euch zu Reichtum jenseits eures Vorstellungsvermögens führen. Ihr werdet alles bekommen, was diese Welt euch bisher versagt hat – alles, was ihr euch je erhofft habt –, oder ihr werdet bei dem Versuch, es zu erlangen, sterben. Es liegt an euch.«
Ana drehte sich um und ging zur Tür. »Teilt mir eure Entscheidung mit, wenn ihr sie getroffen habt.«
Sie schlug die Tür hinter sich zu. Ihr Mund war so trocken, dass sie würgen musste. Mit zitternden Knien setzte sie sich auf die Treppenstufen, Gedämpfte Stimmen drangen aus dem Raum zu ihr.
Ich will sie nicht hören , dachte Ana und presste sich die Hände auf die Ohren.
Eine Weile saß sie so da und lauschte auf das Rauschen des Bluts in ihren Ohren. Es trennte sie von der Welt, schloss sie in ihren eigenen Körper ein.
Als sie schließlich aufsah, stand Erys vor ihr. Der Ewige Gardist war ihr gefolgt. Ana nahm die Hände herunter. »Und?«,
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