Der verwaiste Thron 02 - Verrat
offenen Tür entgegen.
»Gehört er der Ewigen Garde an?«, fragte sie, ohne den Blick von der Gestalt zu nehmen.
»Ja, aber du musst keine Angst haben. Es wird dir nichts tun.« Erys trat auf den Balkon hinaus und winkte Ana heran. »Es kämpft schon lange nicht mehr.«
Auf der Treppe in den Hof blieb sie stehen. Sie drehte den Kopf und sah nach oben. Ana folgte ihrem Blick zu der zerstörten Festung in den Bergen.
»Als er es mir schenkte«, fuhr Erys mit seltsam weicher Stimme fort, »hätte es jeden zerrissen, der sich mir näherte. Aber nach seinem Tod …« Ihre Stimme wurde fester, kälter. »Die Dinge ändern sich. Komm jetzt.«
Und plötzlich erinnerte sich Ana. So klar standen die Bilder in ihrem Geist, dass sie sich fragte, wie sie je hatte vergessen können.
Überall waren Menschen. Sie war ein Kind, saß auf den Schultern eines riesigen Sklaven und spielte mit dessen langen blonden Haaren. Ihr Vater – nicht ihr Vater, der Fürst, sondern ihr Vater, der Sklavenhändler – stand neben ihr.
»Kannst du etwas sehen?«, rief er ihr über den Lärm zu. »Sieh gut hin, wenn sie ihn bringen.«
Ein endloser Zug von Soldaten, die in Ketten lagen, schleppte sich an Ana vorbei. Die Menge johlte und spuckte die Soldaten an, aber Ana wusste nicht genau, warum. Irgendwann wurde es still, so still wie im Vogelkäfig in Anas Gemach, wenn man eine Decke darüberwarf.
Ihr war langweilig. Sie fragte ihren Vater, ob sie nach Hause gehen könnten, aber er schüttelte den Kopf. »Sieh hin«, sagte er. »Sieh hin, wenn sie ihn bringen.«
Und sie sah hin. Vier Männer in den Uniformen der Königreiche marschierten rechts und links eines Reiters, der in Weiß gekleidet war und auf einem Schimmel saß. Seine Hände hielten einen Speer, dessen unteres Ende er auf den Sattel aufstützte.
»Sieh nach oben«, sagte ihr Vater.
Anas Blick glitt an dem Speer empor, zu dem Kopf, der auf seiner Spitze steckte. Der Reiter drehte den Speer, sodass es aussah, als mustere der abgeschlagene Kopf die Menge. Vielleicht waren die Leute deshalb so still. Ana sah dem Kopf ins Gesicht. Fliegen krochen über seine milchigweißen Augen und seine geöffneten Lippen. Die Haut war grünlich verfärbt und an der Stirn aufgeplatzt; weiße Knochensplitter steckten in dem zu einer Kruste getrockneten Blut. Der Wind wehte ihm die Haare in die Stirn, und ab und zu hob der Reiter die Hand, um sie ihm aus dem Gesicht zu streichen.
»Sieh ihn an«, sagte ihr Vater, »und merke dir: Wer alles will, wird alles verlieren.«
Ana schüttelte sich. Die Erinnerung fiel von ihr ab. Nur das Gesicht blieb, dieses arrogante, selbstsichere Gesicht des Herrschers auf dem Wandteppich. Das Gesicht, zu dem die Frau in den Schatten voller Sehnsucht blickte. Das tote Gesicht, über das Fliegen krochen.
»Der Rote König.« Ana stieß den Namen hervor, zusammen mit all dem Wahnsinn, dem Leid und der Gewalt, die sie damit verband. Er hatte die vier Königreiche in den Krieg getrieben, seine Ewige Garde hatte Tausende abgeschlachtet und die Provinzen verwüstet. Ana war mit den Geschichten über seine irrsinnigen Taten und seinen Blutdurst aufgewachsen.
Erys blieb im Hof stehen und drehte sich zu Ana um. »Der Rote König«, wiederholte sie. »Das hat er nie gemocht. Sein richtiger Name war Maracor. Klingt doch viel netter, findest du nicht?«
»Ja«, sagte Ana.
Erys hatte die Frauen im Hauptraum der ehemaligen Stallungen zusammengerufen und ihnen den Vorschlag unterbreitet. Seitdem diskutierten sie darüber, laut und vulgär wie Marktweiber. Ana versuchte sich auf das zu konzentrieren, was da vorgebracht, argumentiert, gestritten, gezetert und gekeift wurde, erwischte sich aber dabei, wie sie immer wieder Erys anstarrte. Was für eine Frau war sie, wenn sie dem Roten König als Geliebte gedient hatte? Was hatte sie gesehen, erlebt, getan?
All die Geschichten, die Ana als Kind gehört hatte, drängten in ihren Geist. Wie der Rote König seinen Vater ermordet hatte, um selbst zu herrschen, wie er über die Provinzen hergefallen war, getrieben von der wahnsinnigen Vorstellung, auch die anderen drei Königreiche zu unterjochen. An diesem Ort, in Srzanizar, eingeschlossen von den Sklavenarmeen ihres Vaters, hatte er sich schließlich das Leben genommen, hatte sich von der brennenden Festung auf dem Berg gestürzt. Ana erinnerte sich an die Lieder, die sie und ihr Bruder als Kinder darüber gesungen hatten.
»Ruhe!« Erys' Befehl riss sie aus ihren Gedanken.
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