Der verwaiste Thron 02 - Verrat
Schiffs zu bleiben.
Es dauerte einen Moment, bis ihr Blick Jonan wiederfand. Sie entdeckte ihn im Ausguck des zweiten Mastes; er wandte ihr den Rücken zu, aber sie erkannte ihn trotzdem. In einer Hand hielt er einen Bogen, und neben ihm brannte eine Fackel in einer Halterung. Ana sah, wie er einen Pfeil in einen Eimer tunkte, ihn an der Fackel entzündete und abschoss. Brennend schlug der Pfeil in den Steg ein. Ein zweiter folgte, ein dritter, vierter, bis eine Wand aus Feuer die Flüchtenden von seinem Schiff trennte. Ein weiteres Mal legte er an, fuhr aber plötzlich herum. Ana sah die brennende Pfeilspitze und Jonans dunkle Augen dahinter. Sie war mehr als einen Steinwurf entfernt und der Großteil ihres Gesichts unter einem Tuch verborgen, aber sie wusste, dass auch er sie bemerkt und erkannt hatte.
Jonan ließ den Bogen sinken. Die Schiffe entfernten sich weiter voneinander. Er blickte über den Rand des Ausgucks hinweg, dachte vielleicht daran zu springen, wich dann jedoch wieder zurück. Die Passagiere und Matrosen verteidigten ihre Schiffe wie Burgherren bei einer Belagerung, ließen niemanden an Bord. Weiter und weiter trieben sie auseinander.
Jonans Gesicht verschwand in der Dunkelheit, aber Ana wandte den Blick nicht ab. Nach einem Moment sah sie schemenhaft, wie er den Bogen hob und den Brandpfeil hoch in die Luft schoss. Wie eine Sternschnuppe glitt er durch den Himmel. Sie sah nicht, wie er im Wasser versank.
»Was war denn das?«, fragte Erys. Ana hatte nicht bemerkt, dass sie an die Reling getreten war.
Ein Versprechen , dachte sie und sagte:
»Nichts.«
Hinter ihr verschwand Srzanizar im Rauch der Feuer, und Ana bemerkte plötzlich, dass sie zwar Chaos und Tod in dieser Nacht gesehen hatte, aber keinen einzigen Nachtschatten.
Die Stadt hatte sich selbst verzehrt.
Kapitel 21
Viele mag es verwundern, dass die östlichen Könige ihre Sommer in Srzanizar, der Stadt der Diebe und Räuber, verbringen. Vielleicht schätzen sie die kurzen Momente der Selbstreflexion, wenn sie Halsabschneider und Dirnen betrachten.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2
Auf seiner Zunge lag Salz. Seine Klauen hatten sich rot gefärbt. Sein Fell war verklebt. Bei jedem Atemzug roch er Angst und Blut und Tod.
Auf allen vieren hetzte Schwarzklaue durch die Straßen der sterbenden Stadt. Seine Rüstung hatte er längst abgelegt, seine Waffen verloren. Er brauchte sie nicht. Das, was er hier jagte, waren keine Feinde, es war Vieh. Es wurde nicht bekämpft, nur geschlachtet.
Er stieß die Tür einer Hütte auf, hinter der er Geräusche gehört hatte. Menschen drängten sich schreiend in eine Ecke, drei Kinder, ein Mann, und eine Frau streckte ihm mit zitternden Händen ein Messer entgegen. Er schlug es zur Seite und biss der Frau die Kehle durch. Die anderen zerfetzte er mit seinen Klauen. Dann zog er sich durch eine Dachluke nach oben und tötete die, die sich auf dem Dach versteckt hatten, die Menschen, die Ziegen, die Hühner. Er sprang über die Gasse auf ein anderes Dach.
Die Nachtschatten, die ihm seit Beginn des Angriffs folgten, brachen durch die Tür. Schwarzklaue ignorierte sie, lief weiter über die Dächer den Hügeln entgegen. Er spürte das Holz unter sich, spürte, wie sich seine Muskeln bei jedem Sprung zusammenzogen und ihn sicher über Dächer und Gassen führten. Er tauchte seine Klauen in Blut, wenn sich ihm ein Narr entgegenstellte. Auch seine Gedanken waren blutgetränkt. Alles, was in ihnen war, geschah in diesem Moment. Es gab keine Zukunft und keine Vergangenheit, nur den Herzschlag in seinen Schläfen und das Blut in seinem Mund. Die Welt war vollkommen, und Schwarzklaue war unbesiegbar.
Er tötete Hunderte in dieser Nacht. Er tötete sie, wenn sie den Kampf suchten, wenn sie sich versteckten oder wenn sie davonliefen. Er hieb seine Klauen in ihren Rücken, riss ihre Bäuche auf, zerbiss Knochen, Sehnen, Adern.
Erst als die Feuer ihn einzuschließen drohten und die Hitze sein Fell versengte, jagte er weiter die Hügel hinauf, über die Stadt hinweg, bis zu den Ruinen einer Festung. Dort, zwischen eingestürzten Mauerresten, legte er sich hin, den Blick auf die brennende Stadt gerichtet.
Ihre Wärme strich über sein Gesicht. Ihr Rauch löschte die Sterne aus. Ihre Schönheit betäubte ihn.
Schwarzklaue lachte leise. Er war glücklich.
Es war Tag, als er erwachte. Die Stadt brannte immer noch. Bis hinauf in die Hügel hatten
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