Der verwaiste Thron 03 - Rache
»Sie starb beim Angriff der Nachtschatten auf die Festung meines Vaters.« Sie zog an den Zügeln ihres Pferdes, als die Kolonne aus Pferden, Kutschen und Menschen langsamer wurde.
Einer der Soldaten, die sie jeden Tag begleiteten, richtete sich im Sattel auf und sah nach vorn.
»Es geht nicht weiter«, sagte er zu dem Gardisten, der neben ihm ritt. »Ich werde nachsehen, was los ist. Du bleibst hier.«
Der zweite Soldat nickte. Ana war aufgefallen, dass die Ewige Garde aus zwei Gruppen bestand: Die kleinere Gruppe gab Befehle, redete und handelte selbständig, während die größere nur Anweisungen ausführte, so als hätte sie keinen eigenen Willen. Ana hatte versucht, ihnen Befehle zu geben, aber sie hörten nur auf andere Gardisten und auf Cascyr.
»Warum seid Ihr dann so traurig?«, fragte Merie. »Die Ewige Garde will die Nachtschatten doch aus Somerstorm vertreiben. Sie rächen Eure tote Familie.«
Weil ich eine Sklavin sein werde, wenn Cascyr Somerstorm erobert , dachte Ana. Weil er mir mein Zuhause wegnehmen will, so wie es die Nachtschatten getan haben. Er ist nicht besser als sie.
Doch das konnte sie nicht laut aussprechen, während der Gardist neben ihr ritt, also sagte sie nur: »So persönliche Fragen gehören sich nicht für eine Zofe.«
»Entschuldigt bitte.«
»Schon gut.«
Die Kolonne war stehen geblieben. An ihrer Spitze wehten weiße Fahnen im Wind. Sie gehörten zu Cascyrs Sänfte. Acht Gardisten trugen sie, ein weiteres Dutzend bildete seine Leibwache.
Cascyr hatte die Sänfte verlassen und redete mit Erys. Die Anführerin der Banditinnen von Srzanizar hielt ihr Pferd an den Zügeln und nickte gelegentlich. Sie trug eine speckig glänzende Lederrüstung, Cascyr weiße lange Roben. Er trug immer weiß, eine Farbe, die in manchen Provinzen Göttern und Königen vorbehalten war. Er schien davon besessen zu sein.
Der Gardist bahnte sich seinen Weg zwischen Karren und Pferden hindurch. Er blieb neben Ana stehen und sah hinauf zu ihr. »Ihr könnt absteigen. Wir schlagen hier unser Lager auf.«
»Warum?«, fragte Ana. »Es ist noch nicht mal Nachmittag.«
»Der König befiehlt es.« Seine Stimme klang verärgert, obwohl sein Gesicht ausdruckslos blieb.
Bilder blitzten kurz in Anas Geist auf. Ihr Fuß, der nach vorn schnellt. Der zurückfliegende Gardist. Ihr wieherndes Pferd, das über die Felder galoppiert, weg, einfach nur weg, ohne ein Ziel zu haben.
Du würdest keinen Speerwurf weit kommen , sagte Jonans Stimme in ihrem Inneren. Sie hatte sich angewöhnt, ihre Fluchtpläne aus seinem Blickwinkel zu betrachten. In ihren Gedanken sprach er sie vertraut an, wie eine Gleichgestellte, wie eine Freundin. Sie vermisste ihn.
Der Gardist griff in die Zügel von Anas Pferd. »Der König befiehlt es«, wiederholte er.
»Der König hat doch bestimmt einen Grund für seinen Befehl, oder?« Um Ana herum stiegen Soldaten von ihren Pferden. Einige nahmen Äxte aus den Satteltaschen und gingen auf die Felder und den Wald zu, der dahinterlag.
Ana blieb sitzen. Der Gardist sah sich um, so als suche er nach Rat. Er zog seine Unterlippe in den Mund und kaute zahnlos darauf herum.
Merie sprang von ihrem Pferd. Sie wirkte ängstlich. »Ich werde Euer Zelt vorbereiten, Herrin«, sagte sie.
Ana antwortete nicht. »Was ist der Grund für den Befehl?«, fragte sie stattdessen den Gardisten.
Der zögerte, dann sah er erneut zu ihr hinauf. »Der Fluss vor uns ist überflutet. Das Wasser hat die Brücke unterspült. Wir müssen sie reparieren.«
»Danke.« Ana ließ die Zügel los, schwang ein Bein über den Sattel und rutschte vom Rücken des Pferds. Sie hatte wieder etwas Neues über die kleinere Gruppe der Gardisten gelernt. Sie trafen ihre eigenen Entscheidungen, aber es fiel ihnen nicht leicht.
Ein unbekannter Feind ist wie ein geschlossenes Buch. Man weiß nicht, was sich darin verbirgt. Ihr Vater hatte dieses Sprichwort geschätzt. Ana begann zu verstehen, weshalb.
Sie ging an der Kolonne vorbei. Die beiden Gardisten folgten ihr zu Fuß, die Pferde an den Zügeln hinter sich herführend. Ana hatte sich bereits an sie gewöhnt und bemerkte sie kaum noch.
Die Felder, an denen sie vorbeiging, waren flach. Wintergemüse stand darauf. In einiger Entfernung ragten die Dächer eines Dorfs über die grünen Blätter. Ana nahm an, dass sie sich in Westfall befanden. Seit Beginn ihrer Flucht war das ihr Ziel gewesen. Irgendwo im Westen lag die Stadt mit der Festung, in der sie nach ihrer Heirat mit
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