Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
nachvollziehbaren Akkorden bestand, hatte schnell genug. Sheila schaltete die Anlage aus.
»Es gibt auch langsamere Stücke«, sagte Valerie. »Jef hatte auch andere Seiten.« Sie warf Sheila einen argwöhnischen Blick zu. »Sie bekommen eine falsche Vorstellung von meinem Mann«, fuhr sie fort. »Es gab eine Zeit, da hat er richtige Lieder gesungen. Auf Deutsch und Englisch, abwechselnd. Das hat sich dann immer weiter reduziert. Vergröbert, könnte man sagen.«
»War er ein guter Ehemann?«, fragte Raupach.
»Nicht schlechter als andere«, beeilte sich Valerie zu versichern. »Er war schwierig. Aber welcher Mann ist das nicht?«
»Er ist tot«, sagte Sheila.
Ihre Worte standen eine Weile im Raum. Wenn Jef nicht auf diese Weise gestorben wäre, dachte Sheila zum wiederholten Mal, hätten Ray und die anderen sie in Frieden lassen müssen. Welch ein Irrsinn. Sie war erpressbar geworden, indem Valerie sich von Jef befreit hatte. Was für die Mutter eine Erlösung war, brachte die Tochter in Gefangenschaft. Aber Valerie hatte all dies weder gewusst noch beabsichtigt. Und es war nicht zu ändern. Er war tot. Und Ray und Ronny waren es auch.
Sheila betrachtete Valeries Hände. Sie waren unablässig in Bewegung. Diese Hände wussten schon lange nicht mehr, was sie taten. Warum konnte Valerie sie nicht still halten?
Raupach nahm ein paar Schlucke Tee. Dann entschuldigte er sich, dass er einige unumgängliche Fragen nach Alibis stellen musste. Wo Valerie am dreißigsten November kurz vor Mitternacht gewesen sei.
»Zu Hause. Ehrlich gesagt … ich war ziemlich hinüber«, sagte sie stockend und wies auf die Flasche Wein. »Aber das ist ja kein Verbrechen.«
»Wenn man Kummer hat.«
»Hin und wieder passiert das, was soll ich dagegen machen?« Entschlossen schob sie das Weinglas weg. »Es war eine absolute Ausnahme. Ich bin keine Trinkerin.« Sie stieß einen Seufzer aus. »Sheila kam vom Eislaufen zurück. Sie hat mir ins Bett geholfen.«
Raupach nickte. Er dachte daran, wie beherzt Sheila bei dem Streit zwischen Photini und dem Jungen mit der Pudelmütze dazwischengegangen war. »Ihre Tochter verhält sich sehr verantwortungsvoll für ihr Alter.«
»Da haben Sie Recht.« Valerie suchte Sheilas Blick. Das Mädchen presste die Lippen aufeinander. Dann schaute es weg.
»Letzte Frage«, fuhr Raupach fort. »Was haben Sie gestern gegen 22 Uhr getan?«
»Ich war im Kino.«
»In welchem Film?«
» Broken Wings, der Kartenabriss muss noch in meinem Mantel sein.« Valerie machte Anstalten aufzustehen, aber Raupach bedeutete ihr sitzen zu bleiben.
»Schon gut«, sagte er. »Wie war der Film?«
Valerie überlegte. »Ein bisschen deprimierend«, gab sie zu. »Aber die Schauspieler waren phantastisch. Die Musik auch.«
Raupach steckte sein Notizbuch ein. »Danke, Sie waren mir eine große Hilfe.« Er griff nach seiner Jacke. »Unter den gegebenen Umständen habe ich Ihnen wohl einen Schrecken eingejagt. Das soll nicht wieder vorkommen.«
»Warten Sie!« Valerie sprang auf und machte sich wieder an dem Telefonschränkchen zu schaffen. Dann reichte sie Raupach einen Zettel. Es war ein Gutschein für ein Sonnenstudio. »Da arbeite ich jetzt. Kommen Sie doch mal vorbei.« Dieser Kommissar würde den Gutschein bestimmt nicht einlösen. Aber er war nett, und sie wollte einen guten Eindruck hinterlassen.
»Danke.«
Es war gut zu erkennen, wie Raupach aufstand, in seine Jacke schlüpfte und sich von den beiden verabschiedete. Johan nahm das Auge von dem Okular und notierte sich die Zeit. Der Mann war eine knappe Stunde geblieben. Die Teetasse, aus der er getrunken hatte, besaß einen Sprung. Johan kannte sie. Eine dunkle Linie reichte vom Boden der Tasse bis knapp unter den oberen Rand, wo sie sich in viele Äderchen verzweigte.
Valerie und Sheila wirkten eingeschüchtert. Oder war das nur Johans Sicht auf die Dinge? Einen Fremden in einen Bereich eindringen zu sehen, der jetzt ihm, Johan, gehörte, war nicht so leicht zu verkraften. Du bist nicht der Einzige, war von Marta zu hören. Was hätte er auch anderes erwarten dürfen?
Er richtete das Teleskop auf andere Fenster. Mattes und Thierry standen in ihrer Küche und buken Weihnachtsplätzchen. Zimtsterne, wie das aufgeschlagene Backbuch verriet. Yilmaz verrichtete ein Gebet, wie es seine Religion ihm gebot. Cora, die Sportstudentin, hatte eine Freundin zu Gast und büffelte mit ihr für eine Prüfung. Sie besaß die Angewohnheit, auf dem Ende ihres Bleistifts
Weitere Kostenlose Bücher