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Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)

Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)

Titel: Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kastura
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weil er sich unzureichend vorbereitet hatte. Nach und nach kamen die Gedanken zurück.
    »Es war kurz nach diesem schrecklichen Unglück«, sagte er schließlich. »Ich stand ziemlich weit vorn. Die Leute begriffen gerade erst, was geschehen war.«
    »Wie haben Sie sich verhalten?«, fragte Raupach.
    »Ich blieb einfach stehen wie die meisten. Ein paar Neugierige standen direkt am Bahnsteigrand und schauten auf die Schienen hinunter. Das fand ich ungeheuerlich, man konnte sich ja vorstellen, was mit der Frau geschehen war.«
    »Sie geriet unter den Wagen und wurde das letzte Stück mitgeschleift«, warf Heide ein.
    »Eben«, sagte Mertens. »Was gab es da zu glotzen?«
    »Manche Leute müssen sich mit eigenen Augen vom Tod überzeugen«, sagte Raupach. »Dass er jederzeit eintreten kann. Das ist eine natürliche Regung.«
    »Und manche ziehen einen Kick daraus«, erwiderte Mertens bitter.
    Raupach stimmte ihm zu. »Was passierte dann?«
    »Der Fahrer der Bahn stieg aus. Er war völlig fertig, stand wahrscheinlich unter Schock. Und dann fiel dieser Satz.«
    »Einen Blick nach dem Grabe seiner Habe sendet noch der Mensch zurück«, las Raupach vor und wägte die Worte ab. Sie folgten einem behäbigen Takt, als hätte ihr Sprecher eine schwere Last geschultert und sei im Begriff, eine lange Reise anzutreten. »Aus welcher Richtung kam die Stimme?«
    »Ich glaube, der Mann stand hinter mir.«
    »Können Sie ihn beschreiben?«
    »Ich habe mich nicht nach ihm umgedreht.« Mertens wurde verlegen. »Ich meine, nach und nach kam am Bahnsteig Bewegung in die Sache. Die Polizei und die Rettungssanitäter trafen ein, es wurden Absperrungen errichtet.«
    »Wie hörte sich die Stimme an? Ist Ihnen irgendeine Besonderheit in Erinnerung?«
    Mertens überlegte. »Nicht dass ich wüsste.«
    »Fiel Ihnen etwas an der Aussprache auf? Ein Dialekteinschlag, Stottern, Sprachfehler?«
    »Nein. Es war ein klarer zusammenhängender Satz.«
    »Hat der Mann noch mehr gesagt?«
    »Nein.«
    »Zum Täter machten Sie damals genauere Angaben«, sagte Heide. »Sie haben sogar das Muster seines Trainingsanzugs beschrieben.«
    »Habe ich das?«, fragte Mertens erstaunt.
    »Ja. Vier weitere Zeugen sagten das Gleiche aus wie Sie. Alle weiteren Täterbeschreibungen wichen stark voneinander ab. Der U-Bahn-Schubser, wie ihn die Presse nannte, wurde nicht gefasst.«
    »Na ja«, hob Mertens an und knetete die Armlehne seines Sofas, »wir haben uns damals über den Unfall unterhalten.«
    »Über den Mord«, korrigierte Heide. »Wen meinen Sie mit wir? «
    »Die Leute, die neben mir standen.«
    »Sie haben über den Täter gesprochen?«
    »Ja, über sein Aussehen. In einem solchen Moment tauscht man sich untereinander aus.«
    Die Wahrheit blieb dabei meistens auf der Strecke, dachte Raupach. »War der Mann, der Schiller zitiert hat, unter den Zeugen?«, fragte er.
    »Das weiß ich nicht mehr. Ich kannte ja niemanden.« Mertens stand auf. Er schien in dem Kinderwagen eine Bewegung wahrgenommen zu haben.
    »Würden Sie die Stimme am Klang wiedererkennen?«
    »Möglich«, sagte Mertens unsicher. »Aber es war ja nur dieser eine Satz.« Offenbar wollte er sich nicht weiter vorwagen.
    »Haben Sie vielen Dank«, sagte Raupach.
    Heide reichte Mertens ihre Visitenkarte. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, nehmen Sie mit uns Kontakt auf.«
    »Und Sie meinen, dieser Mann ist gefährlich?«
    »Sonst hätten wir Sie nicht befragt.«
    Raupach verabschiedete sich höflicher als Heide, die im Stechschritt nach draußen stürmte und bereits mit dem Autoschlüssel klimperte. Mertens blickte ihnen kurz nach und schloss die Tür.
    »Ein unzuverlässiger Zeuge, der sich wichtig machen wollte«, sagte Heide, während sie den Motor startete. »Die Schaulustigen haben ihre Personenbeschreibungen untereinander abgeglichen.«
    »Aber den Wortlaut des Schiller-Zitats hat er sich genau gemerkt.«
    »Das kann an seinem Literaturstudium liegen. Wenn man das Original kennt, ergänzt man unwillkürlich Lücken …«
    »… und berichtigt Fehler.« Raupach konnte das aus eigener Erfahrung bestätigen. Auch er hatte sein Studium abgebrochen.
    Das Fach, für das er sich entschieden hatte, war schon lange nicht mehr in Mode: Alte Geschichte. In der ersten Vorlesung war die römische Kaiserzeit behandelt worden – daher rührte Raupachs Datengedächtnis. Sehr viel weiter war er nicht ins Altertum vorgedrungen. Sein Interesse hatte sich in den Kriegen des aufstrebenden Römischen Reiches

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