Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
überquerten sie die Fahrbahn und gingen an einem Blumenladen vorbei. Wegen des Frostes standen keine Pflanzen auf dem Bürgersteig. Nach der Abzweigung zur Florastraße begann der Verkehrslärm abzuebben.
»Kommen wir zur Sache, Herr Land«, sagte Raupach. »Es ist bestimmt schmerzlich für Sie, an den Tod Ihrer Frau erinnert zu werden. Aber wir setzen auf Ihre Mithilfe.«
Johan nickte. »Ich gebe mir Mühe.«
»Der Fall, den wir gerade bearbeiten, ist ziemlich merkwürdig. Es geht um ein Schiller-Zitat.«
Land blieb stehen und schaute Raupach verdutzt an.
»Friedrich Schiller, der Dichter. Als Buchhändler kennen Sie sich mit Literatur sicher aus.«
»Natürlich«, kam es aus Johans Mund. In seiner Beinmuskulatur zuckte es. Der Impuls davonzurennen. Er war ein guter Läufer.
»In der U-Bahn-Station Rudolfplatz, vor vier Jahren«, fing Raupach an und machte eine Pause. »Kurz nachdem … diese schlimme Sache passiert ist. Damals hörte ein Zeuge, wie jemand einen Satz von Schiller laut ausgesprochen hat. Es war ein ungewöhnlicher Satz, eine Art Sinnspruch. Im Rahmen unserer derzeitigen Ermittlung suchen wir nun den Mann, der diesen Satz von sich gegeben hat.«
»Aha.« Land klang, als habe er kein Wort verstanden.
»Können Sie mir folgen?«, fragte Raupach.
»Ja, durchaus«, sagte Johan. Ohne Marta war es leichter, sich nichts anmerken zu lassen. Er setzte sich wieder in Bewegung.
»Sie haben damals ja auch eine Aussage gemacht.« Raupach wich einem parkenden Auto aus.
»Ich kam von dem Fahrkartenautomaten zurück. Ich konnte nur erkennen, dass es ein Junge war, ein Teenager mit kurzen abstehenden Haaren. Schwarzen Haaren.«
»Das wissen wir. Versuchen Sie, für einen Augenblick nicht an diesen Jungen zu denken. Befassen wir uns damit, was sie sonst noch wahrgenommen haben.«
Raupach gab ihm Zeit, seine Gedanken in die richtige Bahn zu lenken. Es musste furchtbar für den Mann gewesen sein, seine Frau aus dem Leben fallen zu sehen und nichts dagegen tun zu können. »Vielleicht haben auch Sie etwas gehört, das Ihnen seltsam vorkam.«
»Nach der Ermordung meiner Frau?«, sagte Johan rundheraus und schaute Raupach fragend an.
»Richtig. Direkt im Anschluss daran«, gab Raupach zurück. Anscheinend hatte Land den Schicksalsschlag doch gut verarbeitet. Manche Erinnerungen stellten sich nicht auf Abruf ein. Man musste sie hervorlocken, dachte er, eine Vertrauensbasis herstellen.
»Da waren viele Stimmen.« Land strich über die Ohrenklappen seiner Eskimomütze. »Meine eigene zum Beispiel.«
»Haben Sie geschrien?«, schaltete sich Heide wieder ein. »Musste der Schmerz heraus?«
»Nein«, wunderte sich Johan. »Was sollte das noch bewirken?«
»Wissen Sie noch, was Sie gesagt haben?«, fragte Raupach.
»Es war … ein Abschied.« Land blieb wieder stehen. Die Sekunden verstrichen. Eine Frau mit einer prall gefüllten Einkaufstasche ging an ihnen vorbei. »Aber im Grunde gibt es ja keinen endgültigen Abschied. Auf gewisse Weise lebt Marta weiter.«
»Wir sollten allen Menschen, die uns einmal nahe standen, ein ehrendes Andenken bewahren.« Da sie jetzt schon so weit waren, fand Raupach, konnte er weitermachen. »Was war mit den anderen Leuten in der U-Bahn-Station? Bekamen Sie von denen etwas mit?«
»Sie standen nur herum. Redeten. Das war unfassbar für mich.« Land ballte eine Hand zur Faust.
Raupach holte eine Fotokopie der Glocke aus seiner Jackentasche. Er hatte die Passagen aus den Briefen und die aus der Zeugenaussage markiert. »Ich zitiere den Schiller-Satz: Einen Blick nach dem Grabe seiner Habe sendet noch der Mensch zurück. Können Sie damit etwas anfangen?«
»Ein schöner Satz.«
»Poetisch«, sagte Raupach. Offenbar hatte Land die Zeitungen nicht gelesen, sonst würde er anders reagieren. »Und ausgefallen. Erkennen Sie den Satz wieder, wenn Sie die Ereignisse Revue passieren lassen?«
»Ich erinnere mich an den Tunnel.«
»Wie meinen Sie das?«
»Der Tunnel, in den die U-Bahn hineinfahren sollte. Er war gar nicht so dunkel, wie wir uns das vorstellen. Die Scheinwerfer der Bahn warfen Licht hinein.«
»Und was haben Sie darin gesehen?«
»Ein Stück von der Zukunft?«, fragte Johan.
Heide tauschte mit Raupach einen skeptischen Blick. Land schien von den Erinnerungen überwältigt zu werden. Oder er war damals in eine Art Starre verfallen. In diesem Zustand konnte er nicht viel von dem gehört haben, was um ihn herum geschehen war.
Raupach reichte Land die Fotokopie
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