Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
verloren. Die meisten davon waren untergliedert in einen ersten, zweiten und dritten Teil, wie bei einem Kinofilm, dem »wegen des großen Erfolges« Fortsetzungen folgten.
All dies hatte Raupach seinen späteren Kollegen bei der Polizei geflissentlich verschwiegen. Mitte der achtziger Jahre waren ein paar Semester Geschichte im Polizeidienst eher hinderlich gewesen. Von seinem Studium waren ihm nur sein Wissen um die antike Mythologie sowie eine gewisse Halsstarrigkeit geblieben. Diese Eigenschaft zeichnete viele römische Politiker und Feldherren aus – und hatte dafür gesorgt, dass sie meist keines natürlichen Todes gestorben waren. Besonders sympathisch wirkten sie aus heutiger Sicht nicht. Aber sie ließen sich von Rückschlägen nicht beeindrucken.
Heide gab Gas, die Reifen drehten durch. Sie ließ die Kupplung schleifen, der Wagen zog an.
»Trotzdem halte ich Mertens in Bezug auf das Schiller-Zitat für glaubwürdig«, sagte Raupach. »Es ist eine deutliche Spur. Wir haben eine reelle Chance, diesen Mann aus der U-Bahn zu finden.«
Sie fuhren zur Sebastianstraße und bogen Richtung Nippes ab. Raupach bat Heide, das Tempo zu drosseln. Sie wischte seine Einwände beiseite. »Kein Grund zur Sorge, Klemens. Wir haben Winterreifen.« Sie kamen an der Pferderennbahn vorbei. Das Gelände war in der kalten Jahreszeit ein trostloser Anblick.
»Warum legst du dir nicht wieder ein Auto zu?«, fragte Heide.
»Ich brauche keines. Die öffentlichen Verkehrsmittel reichen völlig aus.«
»Das würde Paul nie einfallen. Er legt Wert auf seine Unabhängigkeit.«
»Wie läuft es zwischen euch?«, erkundigte er sich.
»Wild!«, rief sie mit weit aufgerissenen Augen und lachte über Raupachs entgeisterten Gesichtsausdruck. »Ich komme mir vor, als könnte ich Bäume ausreißen. Jeden Tag einen.«
»In deinem Alter?«
»Was hat mein Alter damit zu tun? Mit siebenundvierzig eröffnen sich im Bett Dimensionen, von denen du nicht zu träumen wagst.«
»Was weißt du von meinem Intimleben?«
»Alles, was man von jemandem wissen kann, der das Wort Intimleben für Sex benutzt.« Sie fuhren unter der trogförmigen Trasse der Linie 13 hindurch. Die Stahlbetonträger waren mit Graffiti bedeckt. »Um deine Frage angemessen zu beantworten: Diese … Liaison ist genau nach meinem Geschmack.«
Sie brauchten eine Weile, bis sie die richtige Hausnummer in der Christinastraße gefunden hatten. Raupach kannte sich in diesem Teil von Nippes nicht besonders gut aus. Seine Spaziergänge führten ihn meist an den Rhein, weg aus dem Viertel. Er lebte jetzt seit fünf Jahren in Nippes, einer ehemaligen Arbeitervorstadt mit kleinstädtischem Charme. Davor hatte er lange Zeit in der Südstadt gewohnt, schon als er noch zur Polizeischule ging. Der Ort in Franken, in dem er aufgewachsen war, kam ihm immer dann in den Sinn, wenn er sich wieder einmal über die vielen Kirchen in Köln wunderte. In seiner alten Heimat gab es jede Menge davon, eine schöner als die andere. Vielleicht hatte er seinerzeit das Vertraute im Fremden gesucht und war deshalb nach Köln gezogen.
Sankt Marien hieß der mit Spitzbögen verzierte Backsteinbau, neben dem Heide parkte. Im Schutz der Kirchenmauer hatte jemand ein Igluzelt aufgeschlagen, ein Obdachloser, wie Raupach vermutete. Die Wohnung von Valerie Braq lag nur eine Querstraße entfernt. Auch der Erzbergerplatz, wo die Kinderspielhöhle abgebrannt war, befand sich in der Nähe. Aber sie hatten ein anderes Ziel.
Er klingelte und wartete auf den Türsummer. Das schmale Mietshaus unterschied sich kaum von den anderen, zumeist viergeschossigen Gebäuden in der Christinastraße. In dem Briefkastenschlitz steckten Werbeprospekte. Es gab keine Sprechanlage.
Raupach klingelte noch einmal. »Hat er nicht gesagt, er wäre um zwei Uhr nachmittags zu Hause?«
»Wir sind zu früh«, erwiderte Heide, als sich die Haustüre endlich öffnete. Ein Mann in Joggingkleidung musterte die beiden Kommissare. Seine Augen waren graublau und wirkten ein wenig milchig. Er hatte den Reißverschluss seiner Jacke bis unter das Kinn hochgezogen. Ein paar Sommersprossen auf seiner Nase ließen ihn wie einen großen Jungen aussehen, der auf dem Weg zum Training war.
»Sind Sie die Herrschaften von der Polizei?« Er sah auf eine Sportuhr. Ein Aufdruck auf dem Armband verriet, dass sie einen eingebauten Pulsmesser besaß.
»Wie vereinbart«, sagte Heide und stellte sich und Raupach vor.
»Tut mir Leid, dass Sie warten mussten«,
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