Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
Heide ging mit erhobener Waffe voran, gefolgt von Photini. Sie rechneten nicht mit Gegenwehr, aber sicher war sicher. Als sie alle Räume kontrolliert hatten, gab Heide Entwarnung.
Raupach betrachtete den Dufflecoat an der Garderobe. Dann ging er weiter in den Wohnraum. Auf einer Kommode lag eine Ausgabe mit Schillers Gedichten, wie die Gideon-Bibel in einem Hotel. Auf dem Vorsatzpapier stand der Name Marta Tobisch. Auf der Arbeitsfläche in der Küche befand sich alles, was für die Herstellung eines konventionellen Brandsatzes nötig war. Photini stieß auf einen Aktenordner, der die Originale der Drohbriefe enthielt. Die Indizienbeweise waren erdrückend.
Heide wählte eine Nummer und reichte Raupach das Handy. Er betrat den Balkon, weil dort der Empfang besser war. Woytas meldete sich.
»Wir haben ihn.« Raupach gab Johan Lands Adresse durch. Dann legte er auf.
Johan trat vom Fenster weg. Der Kommissar konnte ihn vom Balkon aus sehen, das wusste er. Raupach blickte momentan zwar ziellos umher. Wenn er jedoch ein gutes Auge besaß und die Rückseite der Viersener Straße anvisierte, würde er Johan entdecken. Das Licht der Stehlampe glich in der hereinbrechenden Dämmerung einem Leuchtfeuer.
Es war vorbei. Sie hatten sich Zugang zu seiner Wohnung verschafft. Die junge Polizistin mit dem südeuropäischen Aussehen untersuchte gerade sein Teleskop. Sie drangen bei ihm ein, als wehte Eiswind in ein beheiztes Zimmer.
Johan eilte zur Tür und drehte den Schlüssel zweimal um. Das war sinnlos, aber er wusste nicht, was er sonst tun konnte. »Ich muss hier bleiben«, sagte er. »Ich kann jetzt nicht weg.«
Valerie hatte das Gesicht in einem Sofakissen vergraben. Johans Unruhe riss sie aus der wohligen Schlaffheit nach der Massage. Sie wickelte sich in die Decke und setzte sich auf. »Was ist los?«
»Zieh die Vorhänge zu.« Johan musste unter dem Türstock den Kopf einziehen. Er stand viel näher an dem Fenster als Valerie.
»Warum machst du es nicht selber?«, wunderte sie sich. »Oder fühlst du dich bei mir immer noch fremd?«
»Tu einfach, was ich dir sage.«
»Wie du willst.« Sie erhob sich, raffte die Decke zusammen und schloss die Vorhänge, ohne gezielt nach draußen zu blicken.
»Mach das Licht aus.«
Sie löschte die Stehlampe. »Ist es so recht?«, sagte sie in einem Ton, der ein wenig ironisch klang.
Er nickte und ging in die Küche. Der Raum lag an der Vorderseite des Hauses. Die Straßenlaternen erzeugten einen aschfahlen Schimmer. Von der Polizei war nichts zu sehen. Für einen kurzen Augenblick fühlte sich Johan sicher.
Valerie trat hinter ihn. »Danke«, sagte sie. »Ich konnte das alles nicht mehr für mich behalten. Es frisst einen von innen auf.«
Da er nicht reagierte, setzte sie sich an den Küchentisch. Sie zog die Beine an und schlug die Decke unter die Füße. So eingewickelt kam sie sich vor wie in einem Mumienschlafsack. Auf dem Tisch stand eine Kerze in einem Messingständer.
»Manchmal hatte ich das Gefühl, dass Jefs Tod überhaupt nichts verändert hat«, begann sie. »Ich meine, irgendwie war er immer noch da. Wenn ich im Wohnzimmer fernsah, dachte ich, er käme gleich mit einem schrecklichen Wutanfall aus dem Schlafzimmer. Wenn ich unter der Dusche war, fürchtete ich, er würde mich einschließen, nur um mich betteln zu hören, dass er mich wieder herausließ.«
»Was willst du noch?«, fragte Johan. »Er kommt nicht zurück.«
Sie betrachtete seinen Rücken und fragte sich, was Johan von ihrem bruchstückhaften Geständnis verstanden hatte. Seinen Händen war nichts anzumerken gewesen, er hatte nicht innegehalten vor Bestürzung oder Missbilligung. Aber die Massage war vorbei, die Phase der Intimität vorüber. Begriff er, dass er sich mit einer Mörderin im selben Raum befand?
»Etwas Böses zu tun. Weißt du, wie das ist?«, fragte sie.
Er schwieg.
»Es macht dich unempfindlich«, fuhr sie fort. »Du verlierst etwas, einen Zugang zu der Welt und den Menschen. Du tust dir selbst etwas an.«
Johan drehte sich um. Sein Gesicht lag im Dunkeln. »Du bist Jef los. Das allein zählt.«
»Wiegt meine Freiheit alles andere auf?«
»Wir haben die Freiheit zu tun, was getan werden muss. Wenn wir sie nicht haben, müssen wir sie uns nehmen.«
Genau das wirst du jetzt machen, bestärkte ihn Marta. Nimm es dir. Und lass nicht los. Es hatte nichts zu bedeuten, dass die Polizei bei ihm eingedrungen war. Alles, was sich dort zur Verwirklichung ihres Vorhabens befand, war
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