Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)

Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)

Titel: Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kastura
Vom Netzwerk:
kämpfte. Johan fügte auch welchen hinzu. Vermutlich musste das so sein, Gleiches mit Gleichem zu behandeln. Die Abhängigkeit, gegen die sie sich so lange erfolglos gewehrt hatte, war wie ein Knebel gewesen, den man nicht ausspucken konnte. Sie hatte ihr nichts entgegenzusetzen gehabt.
    Valerie fühlte sich geborgen. Ihre einzige Befürchtung war, dass Johan aufhörte, bevor er fertig war: Ihre Narben hatte er bislang ausgespart.

    Raupach war die Strecke zum Heumarkt zu Fuß gegangen. Heide las ihn vor einer Fußgängerampel auf. Photini saß im Fond des Wagens. Sie zeigte ihm ihre typografische Analyse.
    »Am Tag vor der Geburt des Erlösers werden die Menschen brennen. Es wird unter der Erde geschehen. Die Strafe wird furchtbar sein.« Photini gab ihm das Blatt. »Der Zusatz des ersten Briefes besteht aus Buchstaben, die er Verlagsprospekten entnommen hat. Er ist sehr sorgfältig vorgegangen, wie ein Schriftsetzer.« Sie breitete die Kopien aus, die sie angefertigt hatte, und legte die Originale aus dem Herbstprogramm der Verlage daneben. Außerdem hatte sie auf die Schnelle einen eigenen unbeholfenen Collageversuch gemacht. Die Zeilen wirkten wie das Werk eines Betrunkenen – oder eines Analphabeten, wie man es nahm.
    »Du meinst, er hat jeden einzelnen Buchstaben ausgeschnitten und zu diesen Worten aneinander gereiht?«, fragte Raupach.
    »Durch den Kopiervorgang wurden die Klebestellen unsichtbar. Es sieht aus wie ein fortlaufender Text. Keine einzige Unregelmäßigkeit.«
    »Aber warum hat er sich diese Mühe gemacht?«, fragte Heide, während sie den Wagen durch den Feierabendverkehr nach Nippes steuerte. »Abgesehen von seiner Besessenheit.«
    »Das sind nicht seine eigenen Buchstaben.« Raupach studierte Photinis Unterlagen. Sie waren penibel dokumentiert. Gerichtsfest. »Er hat sie nicht selbst geschrieben oder getippt, nur zusammengefügt. Diese Prospekte sind öffentlich zugänglich.«
    »Allgemeingut«, ergänzte Photini. »Wie Schiller.«
    »Jedermann ist in der Lage, einen solchen Brief herzustellen und abzusenden. Und jedermann soll ihn empfangen. Deswegen auch die Kopien an die Medien, zumindest am Anfang. Die anderen Botschaften richteten sich an uns, die Polizei, damit wir ihn ernst nehmen. Das zeigten wir ihm, indem wir den zweiten Brief verkürzt an Radio Köln weitergeleitet haben.«
    »Und der Brand im Apollo?«, fragte Heide. »Der Anschlag auf die Linie 5?«
    »Er hat Gefallen an der Sache gefunden und kann nicht mehr aufhören. Die Intervalle verkürzen sich, typisch für Serientäter. Er übt für den großen Tag.«
    »Das Motiv?«
    »Rache für den Tod seiner Frau«, erklärte Raupach. »Das könnte auch jeder gewesen sein. Und alle haben dabei zugesehen.«
    »Was haben die toten Musiker damit zu tun?«, wollte Photini wissen.
    »Das muss er uns selber sagen. Wenn er das kann.«

    Johan gelangte bei den Narben an. Die kleinen runden sahen aus wie Spinnen, die größeren länglichen wie Hundertfüßer. Er knotete sie nacheinander auf, um das verhärtete Bindegewebe zu lösen, und strich die Hautfalten zum Deltamuskel hin glatt, einer dreieckigen Stelle zwischen den Schulterblättern. Dann begann er, die Narben in die Schultermuskulatur zurückzukneten. Sie besaßen eine Art Verschlussfunktion, dadurch waren die betroffenen Hautstellen isoliert vom umgebenden Gewebe. Johan musste das gesunde und das vernarbte Gewebe wieder vereinen, damit die Narben Valeries Körper nicht wie Flicken anhafteten.
    Die darunter liegenden Muskeln waren hartnäckig, gaben aber schließlich nach. Johan machte mehrere Durchgänge, bis er keine Verhärtungen mehr spüren konnte. Er war am Ende seiner Kräfte. Seine Hände fühlten sich an wie monströse Pranken, zwei unförmige, bleischwere Gewichte. So viel Schlechtes hatte sich darin angesammelt, dass er sie kaum mehr heben konnte.
    Ein letztes Mal strich er Valeries Rücken von oben bis unten ab. Er hörte am Steißbein auf, hob die Finger an und ließ die Handballen kurz auf ihrem Gesäßansatz ruhen. Dann nahm er sie weg und stieg von der Couch. Über der Sessellehne lag eine Decke. Er breitete sie über Valerie und riet ihr, noch etwas liegen zu bleiben.
    Sie seufzte vor Erschöpfung. Er hob die Hände, um sie auszuschütteln und alles loszuwerden, ein abschließender Akt, den er keinesfalls versäumen durfte. Dabei schaute er aus dem Fenster. Sein Blick suchte seine Wohnung. Er erstarrte.

    Die Vermieterin hatte die Tür im vierten Stock aufgesperrt.

Weitere Kostenlose Bücher