Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
»Sheila geht es den Umständen entsprechend gut, ihr Zustand ist stabil. Machen Sie sich bitte keine Sorgen.«
Valerie Braq schüttelte den Kopf. »Ich hätte sie niemals verlassen dürfen. Was bin ich bloß für eine Mutter?« Sie schlug die Hände vors Gesicht.
»Hatten Sie denn eine Wahl?«, fragte Raupach.
Sie schluchzte auf und schwieg.
Raupach betrachtete ihre bebenden Schultern. Eine Minute verstrich, dann zwei. Die Zeit lief ihm davon, aber drängen durfte er diese Frau jetzt auf keinen Fall. »Wollen Sie darüber sprechen?«, begann er.
Sie blickte auf. Ihre Miene wirkte entschlossen. »Ich sage Ihnen alles, was Sie wissen wollen. Ich weiß nur nicht, wo ich anfangen soll.«
»Wie wäre es mit dem Ende?«
»Was meinen Sie damit?«
»Können Sie uns sagen, wo sich Johan Land aufhält?« Die erste von vielen dringlichen Fragen. Es war bereits kurz nach halb elf am Morgen.
»Das weiß ich nicht. Wir haben uns gestern getrennt.«
»Wo?«
»In Nippes, in der Sechzigerstraße. Ich nehme an, er hat jetzt ein neues Versteck.«
»Will er heute einen Brandanschlag verüben?«
»Das hatte er vor.«
»Was wissen Sie darüber?«
Valerie Braq griff nach hinten und holte ein kleines Heft aus der Gesäßtasche ihrer Jeans. »Das ist mein Tagebuch. Da steht alles drin.« Sie hielt kurz inne. »Mehr, als Sie sich vorstellen können.« Dann fügte sie hinzu: »Ich glaube nicht, dass er es tut.«
Es dauerte Stunden, bis Raupach, Heide und Jakub sich ein ungefähres Bild von der Entführung gemacht hatten. Sie gingen die Tagebucheinträge zusammen mit Valerie Braq der Reihe nach durch. Manchmal war die Frau eine große Hilfe, vor allem in Bezug auf Lands Motive und seine Absicht, heute Abend am Rudolfplatz zuzuschlagen. Sie hatte ähnliche Schlüsse gezogen wie die Ermittler, sie war eine gute Beobachterin. Den Koffer, in dem der Brandsatz versteckt war, beschrieb sie zum Beispiel sehr genau. Dann jedoch verhedderte sie sich in subjektiven, erlebnishaften Schilderungen, etwa von der anhaltenden Dunkelheit in ihrem ersten Versteck oder den Misshandlungen durch Aalund. Oder sie holte aus und erzählte von ihren ersten Begegnungen mit Johan, einem Besuch in der Sauna oder in einem Kino, dem Apollo, wo Land später Feuer gelegt hatte. Es ging alles durcheinander. Zu viel hatte sich in dieser Frau angestaut. Jetzt brachen die Dämme, hinzu kam der Schock über Sheilas Verletzung. Jakub bat oft um eine Pause.
Das Tagebuch vermittelte einen ähnlichen Eindruck. Es war ein Mischmasch aus nüchternen, präzisen Einträgen, in denen sie den Ablauf der Tage festhielt, und wirren Spekulationen über Lands Geisteszustand und das Verhältnis zu seiner verstorbenen Frau. Dabei fiel auf, dass ihr Wohlwollen für Johan Land zunahm. Tatsächlich schienen die beiden eine Liebesbeziehung angefangen zu haben. Stockholm-Syndrom, nannte das Jakub, Sympathie mit dem Entführer.
Die ganze Zeit über hatte Raupach einen Knopf im Ohr. Woytas übermittelte ihm die Lage im U-Bahn-Netz. Noch war es erstaunlich ruhig für den letzten Tag vor Weihnachten. Die Kölner schienen die Warnungen der vergangenen Tage ernst zu nehmen. Wer es sich leisten konnte, hatte schon Urlaub genommen und alle Besorgungen erledigt, um die Ereignisse zu Hause in Sicherheit abzuwarten. Wer noch in der Stadt unterwegs war, versuchte, die U-Bahn zu meiden. Über der Erde brach langsam, aber sicher ein Verkehrschaos aus. Unter der Erde konnte man sich erstaunlich frei bewegen, wenn man von den Sicherheitskontrollen absah.
Während einer Pause erfüllte Raupach Valeries Wunsch, Sheila zu sehen. Er schilderte ihr in groben Zügen, was dem Mädchen passiert war. Dann vergewisserte er sich telefonisch bei Photini und ließ Valerie zu ihr ins Krankenhaus bringen.
Nach einer kurzen Wachphase am Vormittag, in der Sheila einigen Reaktionstests unterzogen worden war und benommen versucht hatte, sich zu orientieren, schlief sie wieder. Photini ließ Valerie für ein paar Minuten zu ihr. Valerie saß stumm an Sheilas Bett. Sie umfasste die Hand ihrer Tochter, als bäte sie um Verzeihung. Dann wurde sie ins Präsidium zurückgebracht.
Jakub bot ihr wieder Kaffee an. Valerie lehnte ab. Sie hatte ihre Jacke nicht ausgezogen, saß kerzengerade auf dem Stuhl. Sie nickte ein paar Mal, wie um sich Mut zu machen. Dann gestand sie den Mord an ihrem Mann Jef.
Valerie hatte ihn mit einem Kissen erstickt. Land hatte es durch sein Teleskop beobachtet, und deshalb hatte er Valerie in
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