Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
alle.«
Die anderen Teilnehmer nickten.
Der Dozent ging zu einem Laptop und tippte darauf herum. Daraufhin warf der Beamer eine Zahlenfolge an die Wand. Es war die Zahl π, bis zur vierzigsten Stelle hinter dem Komma.
»Beginnen wir bei der Drei.«
Raupach dachte wieder an die Steine. Manchmal kam es vor, dass die Menschen sie nur zum Schein mit sich herumschleppten. Manchmal beabsichtigten sie sogar, dass man sie findet. Auch daraus ließen sich Schlussfolgerungen ziehen, Zusammenhänge erschließen.
Aber manchmal war ein Stein nur ein Stein.
Valerie konnte nicht glauben , was ihr Dr. Joos am Telefon erzählte. All ihre Bemühungen waren im vergangenen Jahr darauf gerichtet gewesen, die Verdachtsmomente gegen sie zu entkräften. Das Gutachten der Gerichtsmedizin, das Polizeiprotokoll, der Bericht des Drogendezernats – all dies kannte sie auswendig. Bis zuletzt hatte sie damit gerechnet, dass es zumindest einen Prozess geben würde. Dass sie ihre Aussage vor einem Richter wiederholen musste. Dann wäre Sheila vermutlich auch gehört worden – was sie ihrer Tochter unbedingt ersparen wollte.
Und jetzt das: Das Verfahren wurde eingestellt.
»Gehen Sie auf keinen Fall mehr auf die Wache!«, wies Joos sie an. »Die Polizei hat mehr als genug von Ihren Beteuerungen. Die müssen sich um andere Fälle kümmern, das Leben geht weiter.«
»Ich habe nur noch mal erklärt, was damals passiert ist«, entgegnete Valerie. »Damit es zu keinen Missverständnissen kommt.«
»Machen Sie eine Therapie, wenn Sie Redebedarf haben, fahren Sie in Kur, das wird Ihnen wegen der psychischen Belastung unter Garantie bewilligt. Aber lassen Sie die Beamten um Gottes willen ihre Arbeit machen. Sonst kommen die noch auf falsche Gedanken.«
»Ich dachte –«
»Sie brauchen nicht mehr zu denken, Frau Braq. Es ist vorbei.«
Sie konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken, so sehr hatte sie diesen Augenblick herbeigesehnt. Etwas in ihrem Körper löste sich, ein Knoten dicht unter ihrem Kehlkopf. Wegen dieses Knotens konnte sie seit Monaten nur mit gepresster Stimme sprechen. Jetzt stiegen die Worte langsam empor wie der Pegel bei einem überraschenden Regenfall. Doch Valerie hielt sie zurück.
»Tut mir Leid«, sagte Joos. »Es war nicht so gemeint.«
Wenn er mit Valerie sprach, wurde er schnell ungehalten. Sie hatte einen leiernden Tonfall, der einen viel beschäftigten Mann wie ihn ungeduldig werden ließ. In Gedanken war er stets schon beim nächsten Fall, wenn er mit ihr sprach. Er konnte den Polizisten gut nachfühlen, dass sie ihnen auf die Nerven fiel.
»Das Jahr muss schrecklich für Sie gewesen sein.« Er heuchelte Verständnis. Vermutlich war dieses Gespräch das letzte, das er mit ihr führen musste.
»O ja, das war es«, hauchte sie.
Sie hätte es gerne in den Hörer geschrien. Was wusste dieser Anwalt schon von diesem Jahr? Wie oft hatten sie telefoniert? Viermal, fünfmal? Höchstens. Die Gespräche dauerten niemals länger als eine halbe Stunde. Jedes kostete eine Summe, für die sie im Callcenter zwei Tage schuften musste. Ein halbe Stunde Dr.-Joos-Worte für zwanzig Stunden Valerie-Worte. Und das war nur die juristische Beratung. Den Rest seiner so genannten Verteidigung, all die Briefe, den Anhörungstermin, das Hin und Her mit der Staatsanwaltsschaft, berechnete er gesondert.
»Wie geht es … Ihrer Tochter?« Er blätterte in seinen Unterlagen. »Sheila, nicht wahr? Hat sie es verkraftet?«
Ihr Blick fiel auf die Tür zu Sheilas Zimmer. Sie war seit einiger Zeit abgesperrt, wenn sie mit ihren Freunden in der Stadt unterwegs war. Ein abwesender Gast in einem Etagenhotel, nur dass sie ihren Zimmerschlüssel mitnahm. Heimat auf Zeit, kein Zuhause.
Doch Sheila war ein pflegeleichter Gast. Sie stellte wenig Ansprüche und versorgte sich selbst, wenn ihre Mutter nicht da war. Meistens kümmerte sie sich auch noch um die Wäsche. Valerie hätte es mit dem Mädchen nicht besser treffen können. Die beginnende Pubertät ihrer Tochter entlockte ihr ein wissendes Lächeln. Ein neues, exotisches Land lag vor Sheila. Valerie kannte das Gefühl, obwohl es lange zurücklag.
Kurz nach Jefs Tod hatten sie sich mehrere Tage lang intensiv unterhalten. Sheila war damals zwölf gewesen. Sie hatte nicht ganz begriffen, dass ihr Vater unwiderruflich weg war. Dass die Plage ein Ende hatte und er niemals zurückkehren würde. Andere Dinge schienen ihre Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. Jungs, Mode, Musik. Valerie
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