Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
holte ihr Handy aus der Manteltasche und warf einen Blick auf die Anzeige. »Keine Ahnung, was mich um die übliche Zeit hier reingetrieben hat. Muss die Macht der Gewohnheit sein. Den Dienstantritt verpasse ich meistens, aber Feierabend mache ich pünktlich auf die Minute.«
»Es gibt gute und schlechte Gewohnheiten.«
»Eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein. Heute Vormittag habe ich meine Arbeit verloren.«
»Das tut mir Leid«, sagte Johan mit echtem Bedauern.
»Das braucht es nicht. Ich hab gekündigt. Der Job stand mir bis hier.«
Er kannte ihre Gehaltsabrechnungen. In der Mittagspause fuhr er manchmal nach Nippes zurück, um ein paar Briefkästen zu kontrollieren. Unterbezahlte Callcenterkräfte mit Berufserfahrung, die bei Bedarf auch bis in die Nacht arbeiteten, waren trotz der Wirtschaftsflaute gefragt, dachte er. Aus seiner Sicht hatte Valerie keinen Grund, Trübsal zu blasen. »Ich denke, Sie werden bald etwas Neues finden. Mit einer so angenehmen Stimme sollte das kein Problem sein.«
»Wenn nicht, werden wir uns seltener sehen.« Sie lachte, überrascht von dem Kompliment. »Es sei denn, ich finde eine Stelle mit der gleichen Arbeitszeit.«
Wenn nicht, wird sie wahrscheinlich davonkommen, dachte Johan. Sollte Valerie einmal in ihrem Leben Glück haben? Durfte er das zulassen? Er hatte keinen Einfluss darauf, wer von den Schuldigen am Dreiundzwanzigsten um 18 Uhr 33 in der Bahn sitzen würde. Er konnte sie nur beobachten, mehr nicht. Das wurde ihm jetzt schmerzlich bewusst.
»Besonders häufig sind wir uns letztens ohnehin nicht begegnet«, erwiderte er. »Haben Sie länger gearbeitet?«
Sie überlegte einen Moment. »Stimmt, ich hab seit zwei Wochen Doppelschicht geschoben. Das ist Ihnen aufgefallen?«
»Sicher.«
Der Mann wurde ihr sympathisch. Er wirkte zwar ein bisschen langweilig, aber warum sollte sie es nicht mal mit einem ehrbaren Bürger versuchen? Nach Jefs Tod hatte sie eine Reihe von One-Night-Stands gehabt, Kneipenbekanntschaften, von denen eine anstrengender als die andere gewesen war. Kaum zu glauben, wie viele Männer sich für etwas Besonderes hielten. Alle hatten große Dinge vor. Einen Kinofilm drehen. Nie da gewesene Bilder malen. In Köln konnte man mit verhinderten Künstlern die Gehsteige pflastern. »Ich bin Valerie«, stellte sie sich vor.
»Wir müssen.« Johan nahm seine Tasche, sie standen gleichzeitig auf. Die Bahn fuhr in ihre Station ein. Valerie stellte sich neben ihn. Beim Aussteigen ließ er ihr den Vortritt und deutete eine Verbeugung an.
»Sie sind ja ein richtiger Kavalier«, entfuhr es ihr. Was zum Teufel redete sie da? Während sie am Bahnsteig entlanggingen, spürte sie den Alkohol in ihrer Blutbahn. Sie musste sich zusammennehmen, sonst hielte er sie für eine dümmliche Schnapsdrossel. »Nach meiner Kündigung bin ich in einem Lokal versackt«, sagte sie zur Erklärung. »Fangen Sie mich auf, wenn ich umkippe.«
Er blieb stehen. »Sie kippen nicht um.«
Es klang wie ein Urteilsspruch, nur schmeichelhafter. »Ihren Optimismus möchte ich haben«, sagte sie und fühlte sich, als tätschelte er ihre Hand, um ihr Mut zu machen.
Draußen auf der Straße stellten sie fest, dass sie denselben Weg hatten. Er trug keinen Ehering. Das hatte zwar nichts zu bedeuten, aber immerhin. Valerie ging in einen türkischen Lebensmittelladen und kaufte die Zutaten für Nudeln mit Tomatensoße ein. Hoffentlich hatte sich Sheila noch keine Brote gemacht.
Etwas verspätet, aber formvollendet stellte er sich mit »Mattes« vor. Sie kannte jemanden aus ihrer Straße, der so hieß und irgendwas mit Webdesign machte. Er hatte Jef beim Installieren seines Computers geholfen und ihm ein komplettes Programm zum Schneiden von Musikstücken auf den PC kopiert. Jef hatte es nie benutzt und den Computer ausschließlich für Videospiele gebraucht. Wenn er eine Nacht lang vor dem Bildschirm gesessen hatte und dann ins Bett gewankt war, hatte sie sich immer schlafend gestellt. Es hatte nichts genutzt, egal, wie früh sie aufstehen musste.
Der nette Mann begleitete sie während ihres Einkaufs. Er nahm nur eine Packung Cornflakes und eine Tüte Milch. Ein großer Koch war er wohl nicht, vermutete Valerie. Schließlich standen sie vor ihrer Haustür. Es kostete sie einige Überwindung, den nächsten Schritt zu tun.
»Wollen wir zusammen essen?«, fragte sie. Vielleicht hatte Sheila ein wenig aufgeräumt. Das tat sie manchmal, ohne dass Valerie sie darum bat.
Er zögerte. Sie
Weitere Kostenlose Bücher