Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
musste ehrlich zu ihm sein, dachte sie. Das war das Wichtigste. Ein ganzes Jahr lang hatte sie mit einer Lüge gelebt – und würde es weiter tun, vielleicht bis an ihr Lebensende. Da konnte sie wenigstens in kleinen Dingen aufrichtig sein. »Meine Tochter ist wahrscheinlich zu Hause. Aber für gewöhnlich verschwindet sie gegen acht. Sie ist dreizehn. Ich kann sie nicht mehr halten.«
»Ich weiß.«
»Haben Sie Kinder?«, rutschte es ihr heraus.
Johan überlegte. »Bis wann ist ein Mensch ein Kind?« Dann lächelte er und schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich glaube, ich kann mir vorstellen, wie es ist.«
»Heißt das, es stört sie nicht, wenn Sheila mit uns zusammen isst?«
»Warum sollte es? Leider habe ich noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen.« Er bemerkte ihren enttäuschten Gesichtsausdruck. »In einer Stunde?«, setzte er hinzu.
»Fein!« Das gab ihr Zeit, sich etwas zurechtzumachen. Nach diesem Tag musste sie furchtbar ausssehen. Wie hatte sie es nur geschafft, dass dieser Mann trotzdem Interesse an ihr zeigte?
»Soll ich eine Flasche Wein mitbringen?«
»Gute Idee.« Sie strahlte. Das Wässrige in ihren Augen verschwand und wich einem dunklen Glanz. Er nickte ihr zu und ging weiter.
Sie sperrte die Haustür auf. Verdammt gute Idee, dachte sie.
In einem Lokal am Hansaring aß Raupach ein Steak und trank dazu ein Bier. Der Kellner versuchte vergeblich, ihn aufzuheitern. Raupach schwieg beharrlich. Er entschuldigte sich für seine abweisende Art, als er die Rechnung beglich, und gab ein großzügiges Trinkgeld. Dann fuhr er nach Hause.
Als ihn beim Einsteigen in die Bahn ein Betrunkener anrempelte und wüst beschimpfte, stand er kurz davor, seinen Ausweis zu zücken. Er hatte Lust, den Mann zusammenzustauchen und mit dem Handy eine Streife herbeizurufen. Eine Machtdemonstration, um sich Respekt und seiner Niedergeschlagenheit ein Ventil zu verschaffen, sagte er sich. Es fehlte nicht viel, und er wäre nicht besser als dieser Briefschreiber mit seinem Schiller-Gedicht. Seine Arbeit im Archiv: Niemand erwartete von ihm greifbare Ergebnisse. Manchmal befürchtete er, wie einer jener neugierigen Anwohner zu wirken, die dem Bereitschaftsdienst mit Alltagsbeobachtungen auf die Nerven fielen. Die Kollegen von der Notrufannahme hörten ihnen gar nicht richtig zu, sondern überlegten nur, wie sie sie auf einigermaßen höfliche Art loswurden.
Wenigstens hatte er gegen sein Selbstmitleid ein Mittel gefunden. Nach einer knappen halben Stunde kam er in der Gneisenaustraße an. Seine Wohnung machte einen furchtbar aufgeräumten Eindruck. Aus Trotz ließ er Jacke, Schuhe und Krawatte achtlos zu Boden fallen. Dann, quasi zum Ausgleich, holte er den Wäschekorb aus dem Abstellraum und fing an, seine Hemden zu bügeln. Heide hatte ihm schon öfters angeboten, das für ihn zu machen. Er lehnte stets ab.
Raupach hielt seine Hemden in Schuss. So tief war er noch nicht gesunken, dass er mit zerknitterter Oberwäsche durch die Dienststelle lief. Gut, die Arme bügelte er nicht, das taten wohl nur Psychopathen. Und die Zwischenräume zwischen den Knöpfen wurden von der Hemdleiste verdeckt, um die brauchte er sich auch nicht zu kümmern. Alle seine Hemden hatten einen weichen Kragen. Das ließ ihn nicht gerade wie Woytas aussehen, der einen faltenfreien Manager-Look bevorzugte. Aber er konnte den Kopf drehen, ohne dass ihn eine scharfe Kante in den Nacken schnitt.
Raupach befüllte gerade das Bügeleisen mit destilliertem Wasser, als das Telefon klingelte.
»Lebst du noch?« Tante Luise hielt sich ungern mit langen Begrüßungsformeln auf.
»Wie man’s nimmt.«
»Die Zuversicht in Person. Was tust du gerade?
»Ich kümmere mich um meine Hemden.«
»Du bügelst?«, fragte sie entsetzt.
»Ich treffe Vorbereitungen dafür.«
»Dann hör gleich wieder auf damit, Junge. Männer in deinem Alter sollten das nicht mehr tun, vor allem, wenn sie allein stehend sind. Da kommt man nur ins Grübeln.«
»Es macht mir nichts aus.«
»Hast du keine Zugehfrau? Brauchst du Geld?«
»Darum geht es nicht.« Raupach stöhnte innerlich auf. Die Fürsorglichkeit seiner Tante traf ihn jedes Mal unvorbereitet. In den vergangenen drei Jahren hatte er sie immer seltener besucht. Sie wohnte in Rodenkirchen, in einem Haus im Bauhausstil, modern, aber marode. Es war dringend renovierungsbedürftig.
Als Raupachs Frau ihn verlassen hatte, war Tante Luise zu einer engen Vertrauten geworden. Jedes Wochenende war er mit der Linie 16
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