Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
darstellen, nicht besonders phantasievoll, aber effektiv. Nach wenigen Minuten war das Gebirge fertig.
Es folgte eine Einspielung, die den Maler in seinem Privathaus zeigte. Er stellte dem Zuschauer eine Reihe von Wildtieren vor: Eichhörnchen, Frettchen, Waschbären. Sie waren ihm zugelaufen oder jemand hatte sie in seine Obhut gegeben. Er erzählte mit einer solchen Begeisterung von »little rascals«, »friends« und »companions«, dass Raupach nur so staunte. Sicher, es gab Tiersendungen im Fernsehen. Meistens ging es darum, einen neuen Halter für einen Hund oder eine Katze aus dem Tierheim zu finden. Das war eine Art Partnervermittlung, die immer auf einen sehr konkreten Nutzen zielte. Aber die Herzlichkeit des Fernsehmalers, auch wenn sie nur ein auflockerndes Element seiner Show war, erinnerte Raupach an seine eigene Kindheit.
Er hatte einmal einen Spatz besessen, na ja, nicht besessen, der Spatz war ihm zugeflogen, und Raupach hatte ihn mit Brotkrumen und Körnern gefüttert. Nach ein paar Tagen war der Vogel so zahm und zutraulich geworden wie ein Wellensittich aus der Tierhandlung. Er fraß Raupach aus der Hand, setzte sich auf seinen Kopf und lief auf seinen ausgestreckten Armen umher. Manchmal flog er für eine Weile weg, kam aber stets zurück. Bis zum Ende des Sommer ging das so. Eines Tages blieb der Spatz dann für immer weg.
In den folgenden Jahren hatte Raupach immer wieder probiert, Vögel anzulocken, aber das Erlebnis war einzigartig geblieben.
Raupachs Blick fiel auf die Leine, an der die Fotos von Babette gehangen hatten. Nahezu unsichtbar durchschnitt sie den Raum. Er nahm die Leine ab, rollte sie auf und legte sie in die obere Schublade eines Büroschranks. Dann öffnete er eines der großen Fächer und entnahm ihm einen Hängeordner. Im Laufe der Jahre hatte er ein eigenes Archiv angelegt, mit Fotokopien der wichtigsten Unterlagen über die Gewaltverbrechen in Köln und Umgebung seit 1970. Es war nicht einfach, etwas darin zu finden, weil er die Hängeordner nur dann beschriftete, wenn die Unordnung überhand nahm.
Das Dampfbügeleisen auf dem Bügelbrett schnaufte asthmatisch. Raupach achtete nicht darauf. Die freie Tochter der Natur. Als ihm der Spatz in den Sinn gekommen war, hatte er an die letzte Gedichtzeile denken müssen. Der Schreiber des Drohbriefes bluffte sicher nur. Aber sein Bluff zielte auf etwas Einzigartiges, nicht Wiederholbares. Er bezeichnete den genauen Zeitpunkt: Am Tag vor der Geburt des Erlösers werden die Menschen brennen. Das war der Tag vor dem Heiligen Abend, dachte Raupach, der dreiundzwanzigste Dezember. Es wird unter der Erde geschehen. Das konnte vieles bedeuten: Kellerräume, eine U-Bahn-Station. Vielleicht die Krypta einer Kirche, Sakralbauten gerieten seit kurzem wieder ins Visier von Terroristen. Selbst wenn man politische oder religiöse Motive ausschloss, gab es genug unzurechnungsfähige Menschen, die sich ins Fahrwasser von Extremisten begaben. Oder die Fundamente des römischen Prätoriums, falls der Mann es auf öffentliche Einrichtungen oder Kölner Sehenswürdigkeiten abgesehen hatte. Wenn in den Überresten des Prätoriums ein Feuer ausbrach und es genug Nahrung fand, konnte das ganze darüber liegende Rathaus abbrennen.
Diese unheilvollen Sätze. So redete kein Mensch, es war eine überhöhte, feierliche Sprache. Was hatte Heide gesagt? Ihm sei ein Unrecht widerfahren. Das lag natürlich in seiner Vergangenheit, alles lag dort, jedes Motiv, jede Ursache. Es lag dort und wartete, bis jemand wie Raupach es entdeckte. Meist musste man erst mehrere Schichten abtragen, um es freizulegen. Den Stein des Anstoßes zu finden. Motive wirkten verquer und willkürlich – und manchmal waren sie es auch –, bis man die dahinterstehende Logik entdeckte.
Ein Fall wurde immer dann kompliziert, wenn es mehrere Motive gab. Mehrere sich überlagernde logische Systeme und entsprechend viele emotionale Verflechtungen. Mehrere Täter. Mehrere Mörder, auch das war möglich. Ein Flussbett voller Steine.
»I think we could call this painting finished«, sagte der Maler. Er hatte sein Bild beendet, versah es mit seiner Signatur und winkte den Zuschauern zum Abschied zu.
Raupach schaltete den Fernseher aus. Und schlug den ersten Hängeordner auf. Das Bügeleisen dampfte weiter.
Der Applaus ebbte ab, der Moderator betrat wieder die Bühne. Er machte einen Scherz über den Innenminister, die Zuschauer lachten. Während er langsam zu einem Stehtisch neben
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