Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
einer gusseisernen Säule hinüberging und seinen Text von den Pappdeckeln einer Regieassistentin ablas, begleitete ihn eine tragbare Kamera. Der Rest des Aufnahmeteams bereitete sich auf den Auftritt des nächsten Kabarettisten vor. Wie immer war der Alte Wartesaal neben dem Hauptbahnhof bis auf den letzten Platz besetzt.
Heide tauschte ihr leeres Kölschglas gegen ein volles, Paul Wesendonk blieb bei Mineralwasser. Sie hatten einen guten Platz am Tresen. Dort konnten sie die Live-Aufzeichnung der Sendung aus angenehmem Abstand verfolgen.
Heide war seit Monaten hinter zwei Eintrittskarten her. Als sie Paul nach dem Mittagessen in der Kantine kennen gelernt hatte, waren sie darauf zu sprechen gekommen. Eine Stunde später hatte er die Karten organisiert und ihre Verabredung perfekt gemacht.
Aus dem Programm machte sich Paul offenbar nicht viel. Er beobachtete die Reaktionen des Publikums, die vorhersehbaren Lacher, das kurze Innehalten bei einem subtilen Gag, das Raunen, wenn eine Pointe unter der Gürtellinie lag. Erfahrene Kabarettisten gingen darauf ein. Sie vertieften eine erfolgreiche Pointe, indem sie sie leicht variierten. Manchmal suchten sie sich dafür einen Zuschauer als Demonstrationsobjekt aus. Wenn ein Witz daneben lag, plauderten sie ungerührt darüber hinweg und kaschierten ihn mit neuen Themen.
Der Moderator beendete seine Überleitung, es gab wieder Applaus.
»Langweilst du dich?«, flüsterte Heide.
»Nein, alles bestens. Wie gefällt es dir?«
»Ich hab schon bessere Vorstellungen gesehen. Heute fehlt einfach der Biss.«
»Sie machen zu viele Worte«, sagte Paul und ignorierte einen Tontechniker, der ihn strafend ansah. »Aber die Atmosphäre ist einmalig.«
»Wenn du möchtest, gehen wir nach der nächsten Nummer«, schlug Heide leise vor.
»Bist du sicher?«
Sie nickte. Die Sendung live zu erleben, erfüllte ihr zwar einen lang gehegten Wunsch. Aber ganz bestimmt würde sie hier nicht kostbare Zeit mit einem Mann verplempern, der allein ihr zu Gefallen mit ins Kabarett gegangen war. Solche Männer sollte man ihrer Ansicht nach unter Naturschutz stellen.
Unter den ungläubigen Blicken der anderen Zuschauer verließen sie die Show. Heide dankte Paul für die Karten. Die Freiheit, sie jetzt einfach verfallen zu lassen, machte das Geschenk zu einem besonderen Luxus.
»Es ist dein Abend«, sagte Paul. »Tu, was du willst.«
»Weißt du, was du da sagst?«
Er lachte. »Was hast du vor?«
»Lauter schlimme Sachen.«
Sie überquerten die Domplatte und genossen ihren kleinen Ausbruch. Heide überlegte, wo sie hingehen könnten. Möglichst in die Nähe ihrer Wohnung, beschloss sie, ging im Geiste die Kneipen ihres Viertels durch und hakte sich bei Paul unter.
Mattes und Thierry hatten Phantasie. Unter der Fußmatte, auf dem Türstock, in einem alten Schuh – das wäre alles viel zu nahe liegend gewesen. Stattdessen befand sich ihr Versteck in einer hohlen Gipsfigur, die auf dem Gitter vor dem Treppenhausfenster steckte. Sie stellte einen Engel dar.
Johan betrat die Wohnung, sperrte die Tür wieder zu und ließ den Reserveschlüssel zur Sicherheit von innen stecken. Dann sah er sich um. Zu seiner Überraschung lag ein neuer Teppich im Wohnzimmer. Sisal, sogar echt und kein Imitat, dachte er, als er mit der Handfläche darüber strich. Die Webagentur schien nicht so schlecht zu laufen, wie die beiden vorgaben. Vielleicht war von dem Gewinn aus ihrem illegalen Aktiendeal noch etwas übrig. Mattes hatte die Transaktion in einem unscheinbaren Ordner dokumentiert, der Unterlagen über Autoreparaturen enthielt.
Ansonsten stellte Johan kaum Veränderungen fest. Die riesige Klassik-CD-Sammlung mit vorwiegend russischen Komponisten. Ein paar neue DVDs, The Hours, das musste diese Virginia-Woolf-Verfilmung sein. Johan blätterte in dem Booklet. Sobald die DVD ins Regal gewandert war, würde er sie sich ausleihen. Die beiden hatten keinen Überblick über ihre bunte, rasch wachsende Sammlung.
Auf dem Küchenbüfett stand eine Rauchglasflasche. Er öffnete sie und entnahm ihr einen Keks. Es war die Sorte mit Schokoladensplittern, die Johan besonders mochte. Sie schmeckte besser als die Discount-Ware der Güsgen. Bei Yilmaz gab es nur etwas, das aussah wie in Honig getränkte Kuchenstücke. Johan hatte es einmal probiert, ihm wurde schlecht davon.
Das klimatisierte Weinkabinett war wie immer gut gefüllt. Es nahm eine ganze Wand im Esszimmer ein. Die Altbauwohnung war großzügig geschnitten.
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