Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
Aussprache, das ist alles.«
»Sogar Taube reden leiser.«
»Sonst versteht mich doch keiner!«, widersprach Photini. »Heute ist ein besonderer Tag. Da wird man wohl mal die Stimme erheben dürfen.« Auf den Schulterklappen ihrer Uniform, die sie praktisch nie trug, würde sich anstelle des läppischen Strichs einer Kommissaranwärterin bald ein Stern befinden. Christos würde ein Erinnerungsfoto von ihr in voller Montur machen, dann wanderten die Klamotten wieder in den Schrank. »Den Stern kann mir keiner mehr nehmen«, sagte sie stolz.
»Das geht schneller, als du denkst. Du hast Himmerich vor den Kopf gestoßen. Und du bist immer noch im Archiv.« Heide machte eine entschuldigende Geste zu Raupach. »Für deinen zweiten Stern müsst ihr noch einige Leichen aus den Aktenschränken holen.«
»Es war ein Pyrrhussieg«, sagte Raupach.
»Ein was?«, fragte Photini.
»König Pyrrhus war im Altertum ein bedeutender Herrscher«, dozierte er. »Bis er nach Italien übersetzte und sich mit den Römern anlegte.«
»Dumm von ihm.«
»Er gewann eine Schlacht nach der anderen, konnte aber seine Verluste nicht kompensieren.«
»Warum?«
»Seine Personaldecke war zu dünn.«
»Wie bei uns«, warf Heide ein.
»Irgendwann fielen ihm seine griechischen Bundesgenossen in den Rücken, und die Römer besiegten ihn.«
»Aha, die Griechen waren mal wieder schuld. Woher weißt du das?«, wollte Photini wissen.
»Humanistische Bildung. Manchmal geht sie mit mir durch.«
»Das hast du aber gut geheim gehalten. Kannst du auch den Anfang der Odyssee zitieren?«
»Ich glaube schon.«
»Dann lass mal hören«, forderte sie ihn auf.
»Andra moi ennepe, mousa, polytropon, hos mala polla …«
»Hör auf!« Photini hielt sich die Ohren zu. »Was war denn das?«
»Altgriechisch«, antwortete Raupach.
»Was du nicht sagst! Es heißt pol i -tropon, du Pol- y p. Und sprich es um Gottes willen weicher aus! Die Konsonanten dürfen nicht so knallen.«
»Ich versuch’s.« Er fuhr fort: »Hos mala polla planchthe, epei Troies hieron … ptoliethron epersen.« Jetzt verhedderte sich Raupach wirklich in den Konsonanten.
»Klingt schauderhaft«, sagte Photini. »Was soll das deiner Meinung nach heißen?«
Er überlegte kurz. In der Schule hatte er die Zeilen zusammen mit einem Jugendfreund gebüffelt. Alle paar Jahre trafen sie sich wieder. Dann gehörte die Odyssee zu ihrem Wiedersehensritual.
Raupach erinnerte sich. »Nenne mir, Muse, den Mann, den listenreichen, der vielfach wurde verschlagen, seit Trojas heilige Burg er zerstörte.«
Photini nickte verblüfft. »Stimmt.«
Heide pfiff durch die Zähne. »Jetzt kennen wir uns schon so lange, aber damit hast du noch nie versucht mich rumzukriegen.«
»Mit Homer fing alles an, lange vor Pyrrhus.«
»So viel totes Wissen«, schaltete sich Paul ein. »Was fängt man damit an?«
»Werd nicht neidisch«, sagte Heide. »Das ist Poesie.«
»Wem’s gefällt.«
Heide schaute Paul an, als würde sie ihm zum ersten Mal begegnen. »Die Leute wollen hin und wieder was Schönes hören. Alle Farben, alle Lebenstöne. Uns bleibt nur das entseelte Wort.«
»Wie bitte?«
»Schiller. Ich musste diesen Kram pauken bis zum Umfallen. Jedem sein eigener Bildungsschaden.«
»Wie sind wir noch mal darauf gekommen?«, fragte Photini.
»Durch deinen Pyrrhussieg«, sagte Raupach. »Weit wird dich deine Beförderung nicht bringen. Auch wenn ich mich geehrt fühle, dass wir noch zusammenarbeiten.« Er machte eine Pause und versuchte seine Gedanken zu ordnen. »Du bist mir in einigem voraus. Deine Auffassungsgabe und dein Talent, sie umzusetzen. Deine Beharrlichkeit, deine Überzeugungen …«
»Hör auf, Raupach.«
»Er hat das öfter«, erklärte Heide.
»Darf man keine Komplimente mehr machen? Die meisten Menschen kriegen heute nicht mal ein anständiges Lob hin. Sie können nur Beifall klatschen, dabei braucht man nicht nachzudenken.«
Photini legte den Kopf schief und lächelte. Er wurde grundsätzlich. Und persönlich. Beides zusammen kam selten vor. »Mach weiter«, hauchte sie.
»Trotz deiner Vorzüge hast du dich für eine Sackgasse entschieden«, fuhr er fort. »Da kommst du nicht mehr raus, wenn du im Archiv bleibst.«
Mit zwei Sätzen hatte er sie ernüchtert. Ihre gute Laune verflog.
»Ach was, Sackgasse!« Heide versuchte, dem Gespräch eine neue Richtung zu geben. »Himmerich hat uns kaltgestellt, nichts weiter.«
»Weil er den Medien einen Maulkorb verpasst hat?«, fragte
Weitere Kostenlose Bücher