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Der Vierte Tag

Der Vierte Tag

Titel: Der Vierte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Spielberg
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..."
    Noch ehe mein vom Nachtdienst verlangsamtes Hirn zur logischen Schlussfolgerung kommt, ist der Blinde mit zwei, drei Schritten am Bett von Herrn Sauerbier.
    "Geben Sie mir sofort Ihr Handy."
    Der Reporter lässt sich vorerst durch das Knacken in seinem Ohrstöpsel nicht beirren.
    "Wie würden Sie den Geisteszustand des Geiselnehmers beschreiben? ... Hallo ...? Hallo!"
    Mit einer Geste, die nicht von viel Hoffnung für unser aller Zukunft als Geiseln zeugt, gibt er schließlich seine "Hallos" an Herrn Sauerbier auf.
    "Eben ist unser Kontakt zu den Geiseln abgebrochen. Kein gutes Zeichen, fürchte ich."
    Natürlich beschäftigt uns die Frage nach dem Geisteszustand des Blinden noch weit mehr als den jungen Mann von RTL. Furchtbar jähzornig scheint er jedenfalls nicht, es kommt zu keinen Repressalien gegenüber Sauerbier.
    Oder ist nicht Renate, sondern am Ende Sauerbier sein Komplize? Wollte der nicht partout auf die Intensivstation? Sind bei ihm deshalb EKG und Herzenzyme unauffällig? Hat er den Auftrag, bestimmte Informationen über das Fernsehen zu verbreiten? Woher hatte der RTL-Reporter so schnell die Handy-Nummer von Herrn Sauerbier? Natürlich kann Sauerbier auch selbst bei RTL angerufen haben. Auch eine Möglichkeit. Vielleicht, um sich wichtig zu machen. Oder er hat, ohne dass wir es mitbekommen haben, sogar ein mittelgroßes Honorar ausgehandelt.
    In was für eine alberne Tragödie bin ich hier geraten. Nähme unser Geiselnehmer doch endlich seine Brille ab! Könnte ich seine Augen sehen, könnte ich die Situation wenigsten ein bisschen einschätzen. Aber vielleicht ist der Mann tatsächlich blind, würde ich nur in ausdruckslos tote Augen schauen, die genauso wenig verraten wie jetzt, versteckt hinter den dunklen Gläsern.
    Schwester Käthe zappt durch die Sender, inzwischen sind wir fast überall das Topthema, ein Fest für den Fernsehjournalismus.
    "Geiselnahme im Krankenhaus" hat ja auch was! Klar, dass man bei jedem Bankbesuch damit rechnen muss, den Rest des Tages als Geisel zu verbringen, im Flugzeug meist noch ein wenig länger, aber im Krankenhaus, auf der Intensivstation? Ist man denn tatsächlich nirgends mehr sicher?
    Nach bestem Wissen und Gewissen versuchen die Reporter, ihr Publikum zu ängstigen. Ich erkenne keine großen Unterschiede zwischen den Öffentlich-Rechtlichen und den Privatsendern, außer, dass die Reporter von ZDF und ARD nicht so nahe an die Klinik herangekommen sind wie die private Konkurrenz. Ein Mangel an Engagement, den die Öffentlich-Rechtlichen als "Seriosität der Berichterstattung" verkaufen.
    Ich bin froh, dass der Blinde die Handys eingesammelt und abgestellt hat, sonst hätten wir längst wieder ein Dauerkonzert der beliebtesten Handymelodien. Denn die Handynummern von uns Angestellten hätten die Reporter mit Sicherheit irgendwie herausbekommen.
    Zentis steht direkt neben mir, starrt auf den Bildschirm. Spätestens jetzt ist er endgültig sauer. Fernsehen ist sein Element, auch wenn er es bisher nur in den Bürgerkanal geschafft hat, eine von irgendwelchen Senatsstellen finanzierte Fernsehstation, die hauptsächlich Kiez-Berichterstattung machen soll, sich aber schnell zum Treffpunkt sonst nicht ausreichend gewürdigter Selbstdarsteller entwickelt hat. Auf diesem Kanal berichtet Zentis regelmäßig über den medizinischen Fortschritt, an dem er, wenn er das auch nie explizit behauptet, in vorderster Front beteiligt scheint. Es muss die Hölle für ihn sein, jetzt nicht im frischen weißen Kittel von richtigen Sendern über "seine" Klinik und "seine" Intensivstation befragt zu werden. Mit bedeutender Miene würde er herzige Durchhalteparolen an uns sowie ernste Appelle an den oder die Geiselnehmer verkünden. Und irgendwie durchblicken lassen, dass es hätte schlimmer kommen können, er aber Gott sei Dank nicht unter den Geiseln, die Humana-Klinik also unverändert arbeitsfähig und voll funktionstüchtig sei.
    Statt seiner wird auf SAT 1 gerade Beate interviewt, die Verwaltungsleiterin unserer Klinik.
    "Wir machen uns solche Sorgen ..., die Patienten ..., unsere Kollegen!"
    Die sonst beredte Beate findet kaum Worte. Ob es Hinweise auf ein solches Geschehen gegeben habe, will der Reporter wissen.
    "Nein. Ich bin vollkommen überrascht. Es gab keine Drohungen, keine Warnungen."
    Was nicht ganz der Wahrheit entspricht. Natürlich bekommt heutzutage jedes Krankenhaus, das etwas auf sich hält, nicht nur jede Menge Beschwerden und Anzeigen, sondern auch Drohbriefe

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