Der Vierte Tag
Fröhlich seine unangetastete Pizza ein. Und da inzwischen niemand von uns unerweckbar in einen Tiefschlaf gefallen, geschweige denn tot ist, beginnt er, sich über seine kalte Pizza herzumachen.
"Geben Sie mal her. So schmeckt das doch nicht!"
Resolut nimmt Käthe ihm das angebissene Teil aus der Hand und legt es in die Mikrowelle.
"Der Mensch braucht wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag. Sie auch! Sie haben schon genug Probleme, da brauchen Sie nicht auch noch ein Magengeschwür. Drei Minuten, dann ist ihre Pizza fertig."
Modernere medizinische Erkenntnisse, zum Beispiel zur bakteriellen Ursache von Magengeschwüren, sind Schwester Käthe als guter Krankenschwester nicht unbekannt. Was aber noch lange nicht heißt, dass diese Erkenntnisse Mutterinstinkt und Überlieferung außer Kraft setzen. Nicht einmal bei einer Geisel.
Herr Fröhlich bedankt sich artig, und mich übermannt, woher auch immer, plötzlich ein unbeschreiblicher Appetit auf Königsberger Klopse.
Der aber erledigt sich schnell. Stinki hat natürlich geschlungen wie ein Weltmeister. Jetzt legt er sich wieder zu uns, den linken Vorderlauf elegant unter die Schnauze geschoben, und entlüftet zufrieden seinen Magen-Darm-Trakt. Dem folgen ein tiefer Schnaufer und ein unschuldiger Blick in die Runde. Endgültig wird klar, warum dieser Hund Stinki heißt.
"Wieder eine Runde Stadt-Land-Fluss?"
Schon Renates Frage verrät wenig Begeisterung, und wir haben auch keine Lust. Also Fernsehen.
In der ARD hat uns ein Erdbeben im Iran von Platz eins der Berichterstattung verdrängt, bei Pro 7 der Doppelmord an zwei Schülern in Norddeutschland. Immerhin kommen wir in den Nachrichten noch vor, bei Radio Berlin-Brandenburg schließt man an die Tagesschau sogar einen Sonderbericht über unsere aktuelle Situation an. Sie ist schnell beschrieben, dann kommen die üblichen Leute zu Wort.
Der Einsatzleiter vor Ort fasst die Lage, wie ich finde, ziemlich exakt zusammen. Zurzeit keine Verhandlungen, aber auch keine Drohungen. Die verbliebenen Geiseln seien nicht in akuter Gefahr, eiliger Aktionismus aus Sicht der Polizei nicht notwendig. Selbstverständlich werde unverändert hart daran gearbeitet, die Angelegenheit zu einem guten Ende zu bringen. Über den fehlgeschlagenen SEK-Einsatz heute Morgen geht er großzügig hinweg, "unvorhergesehene technische Schwierigkeiten" und "ungenügende Absprachen". Außerdem sei man wegen der schwerkranken Patienten in Taktik und Wahl der Einsatzmittel beschränkt gewesen. Den bei dieser Aktion verletzten Beamten gehe es den Umständen entsprechend gut, keiner von ihnen sei mehr in Lebensgefahr.
Das freut mich zu hören.
Dann meint der Reporter, es gebe nicht nur Gerüchte über eine Lösegeldforderung, sondern auch von einer erfolgten Geldübergabe.
Darauf der Einsatzleiter: "Ich darf Ihnen versichern, dass von uns kein Lösegeld übergeben worden ist."
Eine interessante Formulierung, die wohl bedeutet, dass der Überbringer der Million Euro heute Vormittag kein Polizeibeamter gewesen ist. Was ja stimmen kann. Der Journalist vom RBB ist zu unerfahren oder zu höflich, um nachzuhaken. Außerdem drängelt sich schon sein nächster Interviewpartner ins Bild, unser Herr Innensenator.
Pflichtschuldig dankt der Herr Innensenator erst einmal den Polizeibeamten vor Ort und besonders den SEK-Beamten von heute morgen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt hätten. Schnell aber redet er sich in eine geplante oder wirkliche Rage, liefert eine flammende Volksrede, die weit entfernt von der ruhigen Schilderung des Einsatzleiters ist.
"Wissen Sie, Geiselnahme finde ich immer etwas Furchtbares und ganz besonders Feiges. Aber Geiselnahme in einem Krankenhaus! An einer Stätte der Hilfe, der Barmherzigkeit, wo Menschen ohne Ansehen der Person behandelt werden!"
Hier erinnere ich mich an die Forderung seiner Partei zur deutlichen Erhöhung der Zuzahlung bei stationärer Behandlung, sofern die Patienten nicht privat versichert sind. Aber der Herr Innensenator steht mit seiner Empörung weit über den Niederungen der Tagespolitik.
"Und, als wäre das noch nicht genug, werden hier nicht gesunde Menschen als Geisel genommen, also Menschen, die sich unter Umständen wehren könnten, nein! Es geht um wehrlose Patienten, es geht tatsächlich um die Wehrlosesten aller Wehrlosen, um Menschen, die auf der Intensivstation dieser Klinik mit dem Tode ringen!"
Voller Verachtung schüttelt der Herr Innensenator den Kopf, als müsse er allein den Gedanken an
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