Der Vierte Tag
Fröhlich überrascht mich. "Ich meine, Dr. Hoffmann, wenn Sie hier, mit all diesen modernen Maschinen, einen Menschen vor dem sicheren Tod bewahren: Haben Sie dann in Gottes Plan hineingepfuscht? Oder waren Sie sein Werkzeug?"
Ich denke, es sind inzwischen fast dreißig Grad auf der Intensivstation, ich bin aufgeregt und habe absolut keine Lust zu diesem Gespräch. Außerdem frage ich lieber andere Menschen, ob sie an Gott glauben, als selbst festgelegt zu werden. Mein Problem: Ich habe größte Schwierigkeiten, nicht an einen Gott zu glauben, wenn ich Mozart höre oder Hubble-Fotos von der unendlichen Schönheit des Alls sehe. Nur, wenn ich Gott für die Schönheit der Welt verantwortlich mache, komme ich nicht um die Frage der Verantwortung für die toten Kinder herum. Also mache ich es mir einfach, vielleicht sind es ja schon über dreißig Grad.
"Ich kann es Ihnen nicht sagen, Herr Fröhlich. Aber eines scheint mir sicher: Wenn es einen Gott gibt, so würde er wünschen, dass wir beide die Sache hier zu einem guten Ende bringen. Sind Sie dabei?"
Fröhlich lässt mir die lahme Antwort durchgehen, während ich erneut mein E-Mail-Postfach öffne. Ich glaube, er durchschaut mein leeres Geschwätz. Zum Beispiel, muss sich ein allmächtiger Gott etwas wünschen?
Fröhlich hat noch eine Überraschung für mich. "Sind Sie deshalb heute Nacht zurückgekommen?"
Ich lasse die Frage unbeantwortet. Unter anderem, weil ich sie nicht einmal mir selbst schlüssig beantworten kann.
Die Daten zu Phase zwei und Phase drei aus Italien sind angekommen, Ihre Bearbeitung dauert wiederum nicht allzu lange. Gleiches Prinzip wie bei Phase eins: sich einen generellen Überblick verschaffen, die Systematik begreifen und dann den Computer nach Ausreißern suchen lassen.
Die Prüfprotokolle machen einen ebenso seriösen Eindruck wie die zu den Tierversuchen. Für jeden Probanden finde ich die entsprechenden Werte aufgeführt: Alter, Geschlecht, Datum der Medikamenten-Gabe und der Kontrollen, Blutspiegel von MS 234 und seinen Abbauprodukten, Blutbild, Leberwerte, Nierenwerte und so weiter. Ich lasse mir die erfassten Nebenwirkungen heraussuchen. 8,3 Prozent der Probanden klagen nach MS 234 über Kopfschmerzen, gut drei Prozent über Schwindel, knapp drei Prozent über Müdigkeit. Natürlich gibt es auch Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen, Durchfall. Sogenannte unerwünschte Nebenwirkungen treten unter MS 234 offenbar nicht häufiger auf als bei einer Scheinmedikation. Mit einer Ausnahme: Die Probanden nehmen bis zu fünf Kilogramm Gewicht ab, und zwar unabhängig vom Ausgangsgewicht. Womit bewiesen wäre, dass MS 234 auch tatsächlich wirkt.
Die Kontrolle der Laborwerte läuft wieder problemlos. Ich gebe die entsprechenden Grenzwerte ein und lasse den Computer nach Überschreitungen suchen. Aber er findet nichts. Bei keinem Probanden kam es zu einer bedeutenden Erhöhung oder einem bedeutenden Abfall der Normalwerte, auch nicht für die Leber.
Der größte Teil der Untersuchungen lief in Schwarzafrika und in Osteuropa, wo sie unkompliziert und vor allem billig sind. Tatsächlich ist dort die Teilnahme an einer Medikamentenstudie oft die einzige Möglichkeit, überhaupt an eine Therapie zu kommen. Tests in Schwarzafrika sind darüber hinaus für den US-amerikanischen Markt wichtig: Wegen der Unterschiede im Stoffwechsel und, das kommt bei MS 234 hinzu, es Afroamerikanern in der Regel wirtschaftlich schlechter geht als ihren kaukasischen Landsleuten, sie denen aber im Punkt Übergewicht nicht nachstehen.
Nur eines der Untersuchungsinstitute für MS 234 war in Deutschland, ist aber, wie üblich, nicht namentlich aufgeführt. In diesem Institut wurden hundertzwanzig Probanden mit MS 234 untersucht, ebenfalls ohne bedenkliche Resultate. Inzwischen ist klar, dass Proband Nummer dreizehn nie nach Italien gemeldet worden ist. Aber woher kommen die hundertzwanzig Probanden? Ich kontrolliere die angegebenen Untersuchungsdaten. Alle liegen im Juni, fast ein Jahr später als die großen Untersuchungen in Afrika und Osteuropa. Wie Michael schon gesagt hat: eine späte Nachforderung der Zulassungsbehörde, das erklärt die kleine Probandenzahl und die Untersuchung relativ kurz vor der Zulassung. Und warum man ein teures Labor in Deutschland beauftragt hat. Zur Sicherheit drucke ich die Daten aus.
Damit ist mein Studium der Anmeldungsunterlagen von MS 234 bei den staatlichen Zulassungsbehörden beendet. Und ich bin sogar ein bisschen
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