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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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verzerrten Schrift. Bevor er sich an »Mestre« machte, streckte und bog er mehrmals seine Finger.
    Mestre: altprovenzalisch »moestre«, im Mittelmeerraum eine Form von Maître. Verkleinerungsformen Mestrel oder Mestral, Abwandlung von Mistral. Bezeichnete einst die dem Mistral, dem Meisterwind, ausgesetzte Nordseite. Der Meisterwind, schrieb er auf.
    Er legte seinen Stift hin und holte tief Luft, wobei er gleich mal einen ordentlichen Schub von diesem kalten, rauhen Wind einsog, der soeben seine Liste beschlossen und die Glut seiner Wangen gelindert hatte. Rasch sortierte er seine Reihe: ein Dreier aus roten Drachen mit Lefebure, Fèvre und Brasillier, zwei Wind-Dreier mit Soubise, Ventou, Autan, Espir, Mestre und Wind, ein grünes Drachenpaar mit Lessart und Lentretien, und ein weißes Drachenpaar mit Matère und dem Muttermord. Machte dreizehn. Sieben Frauen, sechs Männer.
    Fehlte noch der vierzehnte Stein, um Die Trumpfhand zu vollenden. Der entweder ein weißer oder ein grüner Drache wäre. Wahrscheinlich ein Mann, damit zwischen den beiden Geschlechtern, zwischen Vater und Mutter ein perfektes Gleichgewicht entstünde. Schweißnaß und wie gerädert brachte Adamsberg das kostbare Buch zur Bibliothekarin zurück. Nun hielt er das geheime Sesam-öffne-dich in der Hand, den Schlüssel, Blaubarts kleinen goldenen Schlüssel, der die Tür zum Totenzimmer öffnete.
     
    Erschöpft kehrte er zu Clémentine zurück, von dem dringenden Verlangen erfüllt, diesen Schlüssel seinem Bruder über den Atlantik zuzuwerfen, ihm das Ende seines Alptraums zuzuschreien. Doch Josette ließ ihm dazu keine Zeit, sie mußte ihm sofort unterbreiten, was sie in der Nacht entschlüsselt hatte. Adamsberg – arbeitet – Gatineau – Ottawa River – Tragestellen-Pfad – trifft – junges Mädchen.
    »Ich habe nicht geschlafen, Josette, ich bin nicht mehr in der Lage, das zu verstehen.«
    »Die Buchstabenfolgen aus Michaëls Computer. Ich habe mich auf der ganzen Linie geirrt und noch einmal beim aou begonnen. Weder yaourt noch caoutchouc, sondern Outaouais. Und dabei kommt das hier heraus.«
    Adamsberg konzentrierte sich auf Josettes zittrige Wörter.
    »Tragestellen-Pfad«, murmelte er.
    »Michaël hat damit schlicht und einfach einen Auftraggeber informiert. Sie waren nicht allein auf diesem Pfad. Jemand wußte davon.«
    »Das ist nur eine Deutung, Josette.«
    »Es gibt nicht Tausende von Wörtern, in denen genau diese Buchstaben stecken. Diesmal bin ich mir mit der Entschlüsselung ganz sicher.«
    »Das ist beachtlich, Josette. Aber eine Deutung wird für die nie Beweiskraft haben, verstehen Sie? Ich habe zwar gerade meinen Bruder vom Abgrund zurückgerissen, doch ich selbst stecke noch immer drin, eingeklemmt unter riesigem Felsgestein.«
    »Riegeln«, korrigierte Josette, »unter riesigen Riegeln.«

55
     
    Raphaël Adamsberg fand die Nachricht am Freitagmorgen vor, sein Bruder hatte sie »Land in Sicht« genannt hatte, wie der Schrei der Matrosen, dachte Raphaël, der Schrei der Seefahrer, wenn sie die ersten nebligen Anzeichen eines Kontinents entdeckten. Er mußte die Botschaft mehrmals lesen, bis er es wagte, den Sinn dieses wirren, in großer Ungeduld und unter Müdigkeit geschriebenen Geflechts aus Drachen und Winden zu verstehen, in dem sich das Ohr des Richters mit Sand, mit Muttermord, mit Fulgences Alter, Guillaumonds Verstümmelung, dem Dorf Collery, dem Dreizack, dem Mah-Jongg und der Trumpfhand vermischte. Jean-Baptiste hatte so schnell getippt, daß er Buchstaben und ganze Wörter übersprungen hatte. In einem Beben, das bis zu ihm herüberdrang, das von Bruder zu Bruder und von Ufer zu Ufer geeilt war und, von Welle zu Welle getragen, schließlich in seine Detroiter Zuflucht geströmt war und das Netz aus Schattenorten ein für allemal zerrissen hatte, an denen er sein verborgenes Leben fristete. Er hatte Lise nicht umgebracht. Er blieb ausgestreckt auf seinem Stuhl sitzen, ließ seinen Körper an dieses sanfte Ufer treiben, unfähig, herauszufinden, durch welche seltsamen Gedankensprünge Jean-Baptiste den mörderischen Weg des Richters hatte ans Licht bringen können. Als Kinder hatten sie sich einmal so tief ins Gebirge hineingewagt, daß keiner von beiden mehr sagen konnte, wo das Dorf lag, oder auch nur einen Pfad erkannte. Da hatte Jean-Baptiste sich auf seine Schultern geschwungen. »Weine nicht«, hatte er gesagt.
    »Wir werden versuchen herauszufinden, wo vor uns die Menschen langgegangen sind.« Und

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