Der vierzehnte Stein
schleudern, wann immer es mir gefällt.
Er hob seine Waffe, sobald er den Greis im Blickfeld hatte.
»Welch rüder Empfang, junger Mann«, sagte Fulgence mit gealterter, knarrender Stimme.
Er kümmerte sich gar nicht um den auf ihn gerichteten Lauf, zog seinen langen Mantel aus und warf ihn auf einen Stuhl. Auch wenn Adamsberg sich auf die Begegnung vorbereitet hatte, hatte sich beim Anblick des hochgewachsenen Greises alles in ihm gespannt. Viel runzliger als bei ihrem letzten Treffen, hatte er doch den aufrechten Körper, die hochmütige Haltung und die herrschaftlichen Gesten seiner Kindheit bewahrt. Die tiefen Falten im Gesicht betonten erst recht jene teuflische Schönheit, die die Frauen im Dorf einst so reuig bewunderten.
Der Richter hatte sich gesetzt und betrachtete mit übereinandergeschlagenen Beinen das auf dem Tisch ausgestellte Spiel.
»Nehmen Sie Platz«, befahl er. »Wir haben uns einiges zu sagen.«
Adamsberg blieb in seiner Position und korrigierte seinen Schußwinkel, wobei er gleichzeitig den Blick und die Bewegung der Hände beobachtete. Fulgence lächelte und lehnte sich vollkommen gelassen auf seinem Stuhl zurück. Das ungezwungene Lächeln des Richters, Bestandteil seiner Schönheit, besaß die Eigenheit, das Gebiß bis zum ersten Backenzahn zu entblößen. Diese Nachgiebigkeit hatte sich mit den Jahren noch verstärkt und ließ seinen Kiefer in einer etwas schauerlichen Pose erstarren.
»Sie sind dem nicht gewachsen, junger Mann, und sind es nie gewesen. Und wissen Sie, warum? Weil ich töte. Während Sie hingegen nur ein kleiner Wicht sind, ein kleiner Bulle. Den ein stümperhafter Mord auf einem Pfad in eine regelrechte Jammergestalt verwandelt. Ja, ein kleiner Wicht.«
Adamsberg ging langsam um Fulgence herum und stellte sich hinter ihn, die Kanone nur wenige Zentimeter von seinem Nacken entfernt.
»Und nervös«, fuhr der Richter fort. »Nur allzu natürlich bei einem kleinen Wicht.«
Er deutete mit der Hand auf die aufgereihten Drachen und Winde.
»All das ist vollkommen richtig«, sagte er. »Sie haben lange dazu gebraucht.«
Adamsberg beobachtete die Bewegung dieser gefürchteten Hand, dieser weißen Hand mit den zu langen Fingern, den nun knotigen Gelenken und den überaus gepflegten Nägeln, die mit jener eigentümlichen und ein wenig, so könnte man sagen, wiegenden Anmut hin und her strich, wie man sie auf alten Gemälden sieht.
»Es fehlt noch der vierzehnte Stein«, sagte Adamsberg, »und der wird ein Mann sein.«
»Aber nicht Sie, Adamsberg. Sie würden meine Trumpfhand nur verschlinzen.«
»Grüner oder weißer Drache?«
»Was spielt das für eine Rolle? Selbst im Gefängnis, selbst im Grab wird mir dieser letzte Stein nicht entkommen.«
Der Richter zeigte mit seinem Finger auf die beiden Blumen, die Adamsberg neben die Trumpfhand gelegt hatte.
»Diese hier steht wohl für Michaël Sartonna und diese hier für Noëlla Cordel«, meinte er.
»Ja.«
»Lassen Sie mich diese Hand korrigieren.«
Fulgence zog einen Handschuh über, nahm den Spielstein, der für Noëlla stand, und warf ihn mit schroffer Geste auf den Haufen zurück.
»Ich mag keine Fehler«, sagte er kalt. »Sie können sicher sein, daß ich mir nie die Mühe gemacht hätte, Ihnen nach Quebec zu folgen. Ich folge niemandem, Adamsberg, ich komme zuvor. Ich war nie in Quebec.«
»Sartonna informierte Sie über den Tragestellen-Pfad.«
»Ja. Ich beobachtete Ihr Treiben seit Schiltigheim, das ist Ihnen nicht entgangen. Ihr Mord auf diesem Pfad hat mich ungeheuer amüsiert. Ein Säuferverbrechen, geschmacklos und ohne Überlegung. Einfach vulgär, Adamsberg.«
Der Richter drehte sich um, mit Blick auf die Waffe.
»Tut mir leid, kleiner Wicht, aber das ist Ihr Verbrechen, und ich lasse es Ihnen.«
Ein kurzes Lächeln des Richters, und ein Schweißausbruch erfaßte Adamsbergs ganzen Körper.
»Seien Sie unbesorgt«, fuhr Fulgence fort. »Sie werden sehen, es ist leichter zu tragen, als man denkt.«
»Warum mußte Sartonna sterben?«
»Wußte zuviel«, sagte der Richter und wandte sich wieder zum Spiel um. »Solche Risiken gehe ich nicht ein. Sie werden auch bald erfahren«, sagte er und zog eine neue Blume, die er auf das Bänkchen legte, »daß Doktor Colette Choisel nicht mehr am Leben ist. Ein bedauerlicher Autounfall. Und daß der Ex-Kommissar Adamsberg ihr in die Finsternis folgen wird«, fügte er hinzu, wobei er eine dritte Blume ablegte. »Erdrückt von seiner Schuld und zu feige, um das
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