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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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trotzdem, Danglard, stimmte der Abstand der Wunden genau mit denen der Zinken überein. Dieser Zufall hat sie einen verdammten Moment lang in ganz schöne Schwierigkeiten gebracht. Sie haben neue Gutachten anfertigen lassen, immer in der Angst vor dem Richter, der weiter drohte. Und diese neuen Untersuchungen ließen sie aufatmen: die Tiefe der Einstiche stimmte nicht überein. Ein halber Zentimeter zu lang. Idioten, Danglard. Als wäre es für den Richter nicht ein leichtes gewesen, nachdem er seinen Dreizack hineingestoßen hatte, jede Wunde mit dem langen Stecheisen nachzubohren und dieses dann meinem Bruder in die Hand zu drücken. Nein, nicht mal Idioten, Feiglinge. Selbst der Richter, ein regelrechter Lakai gegenüber Fulgence. Es war doch viel einfacher, sich an einen sechzehnjährigen Jungen zu halten.«
    »Stimmte denn die Tiefe der Einstiche mit der Länge des Stecheisens überein?«
    »Es war dieselbe. Aber diese Theorie konnte ich nicht vorbringen, da die Waffe ja auf seltsame Weise verschwunden war.«
    »Auf äußerst seltsame Weise.«
    »Alles sprach gegen Raphaël: Lise war seine Freundin, er traf sie abends am Wasserturm, und sie war schwanger. Nach Auffassung des Justizbeamten hatte er Angst bekommen und sie umgebracht. Nur, Danglard, es fehlte ihnen das Wesentliche, um ihn zu verurteilen: die Waffe nämlich, die unauffindbar blieb, und der Beweis, daß er zur fraglichen Zeit am Tatort gewesen war. Und das war Raphaël nicht, denn er spielte Karten mit mir. Im kleinen Hof, erinnern Sie sich? Ich habe unter Eid ausgesagt.«
    »Und als Polizist galt Ihr Wort doppelt.«
    »Ja, und das habe ich für mich genutzt. Ja, ich habe bis zuletzt gelogen. Und wenn Sie heute das Stecheisen vom Grund der Torque heraufholen wollen, nur zu.«
    Adamsberg sah seinen Stellvertreter mit halbgeschlossenen Augen an und lächelte, zum erstenmal in seiner Erzählung.
    »Wäre aber verlorene Mühe«, fügte er hinzu. »Vor langer Zeit habe ich es wieder herausgefischt und in Nîmes in eine Mülltonne geschmissen. Denn dem Wasser kann man nicht trauen und seinem Gott auch nicht.«
    »Er wurde also freigesprochen, Ihr Bruder?«
    »Ja. Aber die Gerüchte gingen weiter, sie nahmen zu und haben ihn bedroht. Niemand sprach mehr mit ihm, alle fürchteten sich vor ihm. Und ihn selbst verfolgte diese Gedächtnislücke, daß er unfähig war, sich zu erinnern, ob er es nun getan hatte oder nicht. Verstehen Sie, Danglard? Er wußte nicht, ob er ein Mörder war. Schließlich wagte er nicht mehr, sich irgend jemandem zu nähern. Sechs alte Kissen habe ich zerschlitzt, um ihm zu zeigen, daß es nie eine gerade Linie ergibt, wenn man dreimal hintereinander zusticht. Zweihundertundviermal habe ich zugestochen, um ihn zu überzeugen, umsonst. Er war zerstört, er vergrub sich weitab von den anderen. Ich arbeitete in Tarbes und konnte ihm nicht jeden Tag die Hand halten. Und so habe ich meinen Bruder verloren, Danglard.«
    Danglard gab ihm sein Glas, und Adamsberg nahm zwei Schlucke.
    »Danach hatte ich nur noch einen Gedanken, den Richter zu jagen. Er hatte die Gegend verlassen, auch ihn hatten die Gerüchte in die Enge getrieben. Ihn jagen, ihn verurteilen lassen und meinen Bruder reinwaschen. Denn nur ich allein wußte, daß Fulgence schuldig war. Schuldig des Mordes und schuld an der Zerstörung von Raphaël. Vierzehn Jahre lang habe ich ihn ohne Unterlaß verfolgt, im Land, in den Archiven, in der Presse.«
    Adamsberg legte seine Hand auf die Akten.
    »Acht Morde, acht Tötungsdelikte, bei denen die drei nebeneinanderliegenden Löcher auftauchen. Verteilt auf den Zeitraum zwischen 1949 und 1983. Acht abgeschlossene Fälle, acht Schuldige, die wie die Fliegen geschnappt wurden, sozusagen mit der Waffe in der Hand: Sieben arme Schweine saßen im Knast, und mein Bruder war von mir gegangen. Fuigence aber ist immer entwischt. Der Teufel entwischt immer. Gehen Sie diese Akten zu Hause durch, Danglard, lesen Sie sie gründlich. Ich schaue jetzt in der Brigade vorbei, um Retancourt zu sprechen. Ich klopfe heute nacht noch einmal spät bei Ihnen an. Ja?«

9
    Auf dem Nachhauseweg sann Danglard wieder und wieder über das nach, was er erfahren hatte. Ein Bruder, ein Verbrechen und ein Selbstmord. Ein Beinah-Zwilling, der, des Mordes bezichtigt, von der Welt verstoßen und gestorben war. Eine Tragödie, so furchtbar, daß Adamsberg nie darüber gesprochen hatte. Was war unter solchen Umständen von der Anschuldigung zu halten, die sich allein auf

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