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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Löcher. Nur verschleiert von einer vorüberziehenden atlantischen Wolke.

20
     
    Voisenet, ausgestattet mit Fernglas und Fotoapparat, plante, sich an seinem Wochenende zu den Wäldern und Seen aufzumachen. Wegen der begrenzten Anzahl von Wagen nahm er Justin und Retancourt mit sich. Die vier anderen Beamten hatten sich für die Stadt entschieden und brachen nach Ottawa und Montreal auf. Adamsberg hatte beschlossen, allein nach Norden zu fahren. Bevor er sich am Morgen auf den Weg machte, überprüfte er noch, ob die schnatternde Gans vom Vortag ihre autoritäre Herrschaft an einen Kollegen abgetreten hatte. Denn daß es ein Männchen war, daran zweifelte er nicht.
    Nein, die despotische Ringelgans hatte nichts abgetreten. Die anderen Gänse folgten ihr brav, wie Automaten wendeten sie auf dem Flügel, sobald der Boß die Richtung änderte, verharrte und schließlich zum Angriff überging, wobei er, um dicker zu wirken, mit gehißten Segeln und aufgeplustertem Gefieder bis dicht auf die Wasseroberfläche niederging, um die Enten zu jagen. Adamsberg beschimpfte ihn mit erhobener Faust und kehrte zu seinem Wagen zurück. Bevor er losfuhr, hockte er sich hin, um sicherzugehen, daß kein Eichhörnchen daruntergeschlüpft war.
    Er hielt immer auf Norden zu, aß in Kazabazua zu Mittag und fuhr weiter auf den unendlichen erdigen Straßen dahin. Weiter als etwa zehn Kilometer über die Städte hinaus machten sich die Quebecois nicht mehr die Mühe zu teeren, da der Frost ohnehin jeden Winter den Asphalt zersprengte. Wenn er in gerader Linie weiterfuhr, dachte er mit heftiger Freude, stünde er bald vor Grönland. An solche Sachen war in Paris nicht zu denken, wenn man von der Arbeit kam. Und auch nicht in Bordeaux. Er ließ sich bereitwillig vom Weg abbringen, bog erneut nach Süden ab und parkte am Waldrand, in der Nähe des Pinksees. Die Wälder waren menschenleer, hier und da war der rotblättrige Boden mit Schneeschollen bedeckt. Manchmal riet ein Schild, sich vor Bären in acht zu nehmen und ihre Krallenspuren auf den Buchenstämmen auszumachen. Sie sollten wissen, daß die Schwarzbären in diesen Bäumen herumklettern, um die Bucheckern zu essen. Na schön, dachte Adamsberg, hob den Kopf und strich leicht über die Kratznarben, wobei er im Laub nach dem Tier forschte. Bis jetzt hatte er nur Biberdämme gesehen und die Losung von Damwild. Alles nur Abdrücke und Spuren, ohne daß die Tiere selbst zu sehen gewesen wären. Ein bißchen wie Maxime Leclerc im Hagenauer Schloß.
    Denk nicht an das Schloß, sondern sieh dir diesen rosafarbenen See an.
    Der Pinksee war ausgewiesen als ein kleiner See unter Millionen, die es in Quebec gab, doch Adamsberg fand ihn weit und schön. Da es ihm seit Straßburg zur Gewohnheit geworden war, Informationstafeln zu studieren, machte er sich beflissen daran, auch die über den Pinksee zu lesen. Die ihm verkündete, daß er an einen See geraten war, der in seiner Art absolut einmalig war.
    Er wich ein wenig zurück. Dieser neuerliche Hang, sich an Ausnahmen zu stoßen, verschaffte ihm ein unbehagliches Gefühl. Er verjagte seine Gedanken mit der gewohnten Handbewegung und las weiter. Der Pinksee war zwanzig Meter tief, und sein Grund war von einer drei Meter dicken Schlammschicht bedeckt. Bis hierher lief alles gut.
    Aber aufgrund ebendieser Tiefe vermischte sich das Wasser an der Oberfläche nicht mit dem am Grund. Ab fünfzehn Metern abwärts bewegte es sich nicht mehr, war nie umgewälzt worden und ebensowenig mit Sauerstoff in Berührung gekommen wie auch der Morast nicht, der seine zehntausendsechshundert Jahre Geschichte in sich verschloß. Alles in allem ein See, der auf den ersten Blick ganz normal erschien, faßte Adamsberg für sich zusammen, und sogar tatsächlich rosa und blau war, der aber einen zweiten, ewig stehenden See unter sich verbarg, luftlos, tot, ein Fossil. Das Schlimmste aber war, daß noch ein Fisch dort unten lebte, aus der Zeit, da es hier noch das Meer gab. Adamsberg betrachtete die Zeichnung von dem Fisch, der an eine Kreuzung zwischen Karpfen und Forelle erinnerte und Bartspitzen trug. Doch er konnte sich die Tafel noch so oft durchlesen, der unbekannte Fisch trug keinen Namen.
    Ein lebender See über einem toten See. Der ein namenloses Geschöpf in sich barg, von dem man eine Skizze, ein Bild besaß. Adamsberg beugte sich über das hölzerne Geländer und versuchte diese verborgene Trägheit unter dem rosafarbenen Wasser zu erspähen. Warum mußten ihn alle

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