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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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seine Gedanken immer wieder zu dem Dreizack zurückbringen? Wie die Kratzspuren der Bären auf den Baumstämmen? Wie dieser verstorbene See, der, versteckt unter einer Oberfläche von Leben, lautlos vor sich hin lebte, schlammig und gräulich, und in dem sich dazu noch ein Gast aus einem toten Zeitalter bewegte?
    Adamsberg zögerte und zog dann sein Notizbuch aus seinem Anorak. Während er sich immer wieder die Hände wärmte, übertrug er bis ins kleinste die Zeichnung dieses verdammten Fisches, der zwischen Himmel und Hölle schwamm. Er hatte ursprünglich lange im Wald bleiben wollen, doch der Pinksee ließ ihn wieder umkehren. Überall stieß er auf den toten Richter, überall traf er auf Neptuns beunruhigende Wasser und auf die Spuren seines verfluchten Dreizacks. Was hätte Laliberté getan angesichts dieser Qual? Hätte er gelacht und die Angelegenheit mit einem Schlag seiner dicken Pranke aus dem Weg geräumt, indem er sich dafür entschied, akkurat, akkurat und nochmals akkurat zu sein? Oder hätte er seine Beute gepackt, um sie nie wieder loszulassen? Während er sich vom See entfernte, beschlich Adamsberg das Gefühl, daß die Hetzjagd sich verkehrt hatte und die Beute nun ihrerseits ihre Zähne in ihn schlug. Ihre Bartspitzen, ihre Krallen, ihre Stacheln. In welchem Fall Danglard ihn zu Recht verdächtigt hätte, daß er eine regelrechte Obsession nährte.
     
    Mit langsamen Schritten kam er zu seinem Wagen zurück. Auf seinen Uhren, die er beide unter Berücksichtigung ihres Fünf-Minuten-Abstands auf Ortszeit umgestellt hatte, war es sechzehn Uhr und zwölfeinhalb Minuten. Er fuhr lange auf den leeren Straßen umher, suchte in der gleichförmigen Unendlichkeit der Wälder nach Ruhe und beschloß am Ende, in bewohntes Gebiet zurückzukehren. Als er den Parkplatz seines Wohnblocks erreichte, verlangsamte er, wurde allmählich wieder schneller, ließ Hull hinter sich und fuhr in Richtung Montreal. Genau das, was er nicht tun wollte. Was er sich auf den gesamten zweihundert Kilometern immer wieder sagte. Aber der Wagen rollte von allein, wie ein ferngesteuertes Spielzeug mit einer konstanten Geschwindigkeit von neunzig Stundenkilometern, immer den Rücklichtern des Pick-ups vor ihm folgend.
    So wie der Wagen wußte, daß es nach Montreal ging, erinnerte sich Adamsberg genau an die Angaben auf dem grünen Papier, an den Ort und die Uhrzeit. Es sei denn, dachte er, als er in die Stadt hineinfuhr, er entschied sich für ein Kino oder ein Theater, warum nicht. Vielleicht würde er den Wagen wechseln müssen, diesen verdammten Karren hier zurücklassen und einen finden müssen, der ihn weder zum Pinksee brachte noch zum Montrealer Quintett. Um zweiundzwanzig Uhr und sechsunddreißigeinhalb Minuten schlüpfte er, die Pause war gerade vorbei, in die Kirche und setzte sich auf eine der vorderen Bänke, in den Schutz einer weißen Säule.

21
     
    Die Musik von Vivaldi wand sich um ihn herum und löste Wogen von Gedanken aus, brandend und verworren. Der Anblick von Camille an ihrer Bratsche berührte ihn mehr, als er wollte, doch war dies ja nur ein gestohlener Augenblick und ein heimliches Gefühl, das zu nichts verpflichtete. In seinem kriminalistisch deformierten Bewußtsein spannte sich der musikalische Faden wie ein unlösbares Rätsel, er hörte ihn fast knirschen vor Vergeblichkeit, dann, ganz unerwartet, ging er in einer fließenden Harmonie auf, in der sich Bedrängnis und Lösung, Frage und Ausweg unaufhörlich ablösten.
    In einem dieser Momente, die Streicher setzten gerade zu einem »Ausweg« an, gingen seine Gedanken blitzartig zu der übereilten Abreise des Dreizacks aus dem Hagenauer Schloß zurück. Er folgte dieser Fährte, während er Camilles Bogen beobachtete. Er hatte den Dreizack immer in die Flucht getrieben, die einzige armselige Macht, die er jemals über den Richter errungen hatte. Mittwoch war er in Schiltigheim eingetroffen, und am Morgen darauf hatte Trabelmann seine Empörung über ihm ausgeschüttet. Was dem Vorfall viel Zeit gelassen hatte, durchzusickern und am Freitag in den Lokalnachrichten zu erscheinen. Genau an dem Tag aber bot Maxime Leclerc sein Haus zum Verkauf an und räumte es leer. Wenn dem so war, waren sie jetzt zwei. Adamsberg jagte aufs neue den Verstorbenen, aber der Verstorbene wußte nun, daß sein Jäger wieder aufgetaucht war. In diesem Fall verlor Adamsberg seinen einzigen Vorteil, und die Macht des Toten konnte sich ihm jederzeit in den Weg stellen. Ein

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