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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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aus.«
     
    Adamsberg lag ausgestreckt auf dem Bett seines Bruders und konnte nicht schlafen. Seine Nacht vom 26. Oktober peinigte ihn wie ein körperlicher Schmerz. Betrunken auf diesem Pfad, in rasender Wut gegen Noëlla und die ganze Welt. Gegen Danglard, gegen Camille, den fremden Vater, Fulgence, ein regelrechtes Haßknäuel, dessen er nicht mehr Herr war, und nun schon seit einer ganzen Weile. Die Baustelle. Ein Dreizack, natürlich. Was gab’s Besseres, um Baumstümpfe herauszureißen? Er hatte welche gesehen, als er mit dem Wächter sprach oder den Wald durchquerte. Er wußte, daß einer dort war. Sturzbetrunken in der Nacht umherwandern, wie besessen von dem Gedanken an den Richter und dem Verlangen, seinen Bruder wiederzusehen. Noëlla erblicken, die ihn wie eine Beute belauert. Das Haßknäuel explodiert, der Weg hin zu seinem Bruder öffnet sich, der Richter steigt in seine Haut. Er greift nach der Waffe. Wer sonst auf diesem verlassenen Weg? Er schlägt das Mädchen nieder. Er reißt ihr den Ledergürtel weg, der ihm den Zugang zum Bauch versperrt. Er wirft ihn ins Laub. Und er tötet sie mit einem Stoß des Dreizacks. Er zerschlägt das Eis auf dem See, versenkt die Tote darin, wirft Steine obendrauf. Genau wie er dreißig Jahre zuvor Raphaëls Stecheisen in die Torque geworfen hatte. Die gleichen Gesten. Er schmeißt den Dreizack in den Ottawa River, der ihn über seine Wasserfälle in Richtung Sankt-Lorenz-Strom davonträgt. Dann irrt er herum, läuft, fällt in Bewußtlosigkeit, will vergessen. Als er aufwacht, ist alles in den unerreichbaren Tiefen des Gedächtnisses versunken.
    Adamsberg war eiskalt, er zog das Federbett enger um sich. Fliehen. Nahkampf. Sich nackt an die Haut dieser Frau heften. Extreme Bedingungen. Fliehen und leben wie ein gejagter Mörder, der er vielleicht war.
    Er wechselte das Terrain, den Blickwinkel. Werd wieder Bulle, nur für ein paar Sekunden. Eine der Fragen, die er Retancourt gestellt und unter der schrecklichen Woge der grünen Akte wieder vergessen hatte, kam ihm erneut in den Sinn. Wie hatte Laliberté bloß erfahren, daß er die Erinnerung an jene Nacht verloren hatte? Weil es ihm jemand gesagt hatte. Und nur Danglard wußte es. Und wer konnte dem Surintendant vom zwanghaften Charakter seiner Verfolgungsjagd erzählt haben? Nur Danglard kannte den Einfluß, den der Richter auf sein Leben hatte. Danglard, der seit einem Jahr gegen ihn opponierte, weil er sich schützend vor Camille stellte. Danglard, der sich für die andere Seite entschieden, der ihn beschimpft hatte. Adamsberg schloß die Augen und legte die Arme übers Gesicht. Der reine Adrien Danglard. Sein edler und treuer Stellvertreter.
     
    Um sechs Uhr abends trat Raphaël in sein Zimmer. Einen Moment lang sah er auf seinen schlafenden Bruder, betrachtete dieses Gesicht, das die Kindheit für ihn heraufbeschwor. Er setzte sich aufs Bett und rüttelte Adamsberg sanft an der Schulter. Der Kommissar richtete sich auf einem Ellbogen auf.
    »Es ist Zeit aufzubrechen, Jean-Baptiste.«
    »Zeit zu fliehen«, sagte Adamsberg, setzte sich hin und suchte in der Dunkelheit nach seinen Schuhen.
    »Und durch meine Schuld«, sagte Raphaël nach einem Moment des Schweigens. »Ich habe dein Leben eingeengt.«
    »Sag nicht so was. Du hast überhaupt nichts eingeengt.«
    »Ich habe dich eingeengt.«
    »Überhaupt nicht.«
    »Doch. Und nun wolltest du sogar zu mir in den Morast der Torque steigen.«
    Adamsberg band sich langsam einen seiner Schuhe zu.
    »Glaubst du, daß es möglich ist?« fragte er. »Glaubst du, daß ich sie umgebracht habe?«
    »Und ich? Glaubst du, daß ich sie umgebracht habe?«
    Adamsberg blickte seinen Bruder an.
    »Du hättest nicht dreimal so exakt auf einer Linie zustoßen können.«
    »Erinnerst du dich, wie hübsch sie war, Lise? Und so leicht und leidenschaftlich wie der Wind.«
    »Ich dagegen habe Noëlla nicht geliebt. Und ich hatte einen Dreizack. Möglich war es.«
    »Durchaus möglich.«
    »Möglich oder sehr möglich? Sehr möglich oder sehr wahr, Raphaël?«
    Raphaël stützte das Kinn in die Hand.
    »Meine Antwort ist deine Antwort«, sagte er.
    Adamsberg band seinen zweiten Schuh zu.
    »Weißt du noch, wie einmal eine Mücke sich ganz tief in deinem Ohr verkrochen hatte und zwei Stunden lang dort saß?«
    »Ja«, sagte Raphaël lächelnd. »Ihr Gesirre machte mich wahnsinnig.«
    »Und wir hatten Angst, daß du, bevor die Mücke tot wäre, wirklich wahnsinnig werden könntest. Wir haben

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