Der viktorianische Vibrator: Törichte bis tödliche Erfindungen aus dem Zeitalter der Technik (German Edition)
Pullmans Wagons von anderen unterschieden: Pullman-Wagen waren deutlich laufruhiger, weil sie auf zwölf statt der damals üblichen acht Räder pro Abteil standen.
Man musste also offenbar nur die Last auf noch mehr Räder verteilen. Statt seinen Pullman – er warb später tatsächlich auch mit dieser Bezeichnung für das Auto – von Grund auf neu zu konstruieren, wählte Reeves den schnelleren Weg des Auto-Tuning: Er kaufte eine Limousine der Edelmarke Overland, verlängerte das Chassis und versah sie mit zwei zusätzlichen Achsen. Ende 1910 war das OctoAuto fertig, für das scheinbar unschlagbare Argumente sprachen: Sanft wie auf Schienen glitt die Karosse, weil immer genügend Räder Bodenkontakt hielten, egal, wie tief die Schlaglöcher ausfielen. Und weniger Reifen sollte das Fahrzeug außerdem verbrauchen, weil sich die Last schließlich auf acht Räder verteilte – Werbung hatte offenbar auch damals nur begrenzten Wahrheitsgehalt.
Seine Werbetour mit dem Prototyp im Jahr 1911, die ihn unter anderem zum ersten Indianapolis-500-Rennen führte, geriet zum viel bestaunten Event, über das die Presse landesweit berichtete. Doch obwohl mancher Schreiber von den neuen Möglichkeiten des rüttelfreien Rasens auf katastrophalen Landstraßen durchaus beeindruckt war und die Begeisterung mit seinen Lesern teilte, wurde das skurril erscheinende Vehikel doch eher als Kuriosität wahrgenommen: Wer, um Himmels willen, fragte sich die Öffentlichkeit, denkt sich denn so was aus? Ein zugleich edel und bescheuert aussehendes Auto, das zwar mit einem enorm guten Geradeauslauf werben kann, aber es kaum um eine Kurve schafft? 6,10 Meter lang, aber mit 3.200 Dollar auch fast viermal so teuer wie der Ford T, der erste massenproduzierte Benziner. Jener entwickelte sich gerade zu einer Art Käfer seiner Zeit.
Reeves auf Promotion-Fahrt: Das OctoAuto war ein viel bestauntes Kuriosum
Der enormen öffentlichen Aufmerksamkeit stand folglich ein deutlich weniger ausgeprägtes Kaufinteresse gegenüber: Reeves verkaufte kein einziges OctoAuto.
Doch entmutigen ließ er sich nicht. Er nahm die Kritik an und wählte den Weg des Kompromisses.
Bereits 1912 glaubte er, sein Konzept so weit wie notwendig verbessert zu haben. Das Nachfolgemodell, das die Vorteile des OctoAutos bewahren sollte, seine Nachteile aber minimieren, verfügte vorn nur noch über eine Achse mit zwei Rädern, während hinten weiterhin vier Räder die Last auf die Reifen verteilten. Das SextoAuto, warb Reeves mit ausgiebigen Anzeigenschaltungen in US-Zeitungen, sei die »Schwester des OctoAutos« – als sei das etwas Wunderbares und nicht etwa ein völlig unverkäufliches Konzept. Die Reifenabnutzungs-Ersparnis würde, folgt man Reeves Logik, bei sechs statt acht Reifen unbedingt kleiner ausfallen. Dafür bewegte sich der Kaufpreis nun allerdings in Richtung 5.000 Dollar.
Abgespeckte Version: Auch mit zwei Rädern weniger blieb das Konzept ein Ladenhüter
Damit war das SextoAuto gut doppelt so teuer wie die meisten anderen Edelkarossen der Zeit. Der Preis des Ford T, des inzwischen allgegenwärtigen Autos für jedermann, näherte sich hingegen 500 Dollar an – die Kiste wurde immer billiger. In heutige Kaufkraft übersetzt kostete der Ford T immerhin noch knapp unter 15.000 Euro, was das SextoAuto zum Äquivalent eines 150.000-Euro-Luxusschlittens machte. Zu Reeves Enttäuschung gab es für das SextoAuto wohl auch darum genauso viele Interessenten wie für das OctoAuto – keinen einzigen. Auch dieser Prototyp blieb ein Unikat.
Die Idee allerdings nicht. Mindestens zwei weitere amerikanische Manufakturen hatten sich bereits an sechsrädrigen Fahrzeugen versucht. Einer der Entwickler war Charles T. Pratt aus dem Staat New York. Das von ihm entworfene Sechs-Rad-Konzept war Reeves Konstruktion technisch sogar überlegen. Pratt ließ sich sein Steuerungssystem, bei dem die Räder der mittleren Achse mitlenkten und das Fahrzeug dadurch wendiger und weniger steif machten, sogar patentieren.
Doch auch sein Konzept floppte auf dem US-Markt: Sechs Räder erschienen den Amerikanern nicht weniger verrückt als acht.
Anders sah es in Europa aus, wo man das Thema Automobil zuweilen pragmatischer anging. Dort entwickelte, baute und verkaufte die französische Autoschmiede Renault ab Anfang der 1920er Jahre mit einigem Erfolg sechsrädrige Autos, Busse und Lastwagen, teils für das Militär aufgearbeitet.
Sechsrad-Renault: Als Expeditions-und Militärfahrzeug bewährte sich
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