Der Visionist
würde? Mir ein paar von deinen Gemälden ansehen.“
„Wa rum?“
„Ich bin neugierig.“
Zwanzig Minuten später sah Lucian seine alten Bilder durch und zog drei heraus. Sie waren alle Kompositionen von Menschen, die Museen besuchten, vor sinnlichen Marmorstatuen nackter griechischer Göttinnen oder berühmten Meisterwerken der Renaissance standen und die Sicht auf sie blockierten, Letztere nur durch Rahmen und farbliche und stilistische Zitate angedeutet. Sie waren Teile eines Projekts, das ihn damals so begeistert hatte, aber unvollendet geblieben war. Als er sie jetzt ansah, konnte er in ihnen kein Talent, nur Ambition erkennen.
Er stellte die Gemälde an der Wand vor Emeline auf, die auf der Couch saß.
„Hast du vielleicht ein Glas Wein?“, fragte sie.
Als er mit Flasche und Gläsern zurückkam, stand sie vor den Gemälden und untersuchte sie aus der Nähe.
„Sie sind so gut und so voller Potenzial. Du hast dir so viel damit vorgenommen.“
„Es ist ja leider nichts daraus geworden.“
„Du hättest nicht aufhören sollen.“
„Es war ein Kindertraum.“
„Und wovon träumst du jetzt? Bösewichter fangen?“
Er lächelte. „Das ist kein so schlechter Traum. Sag es nicht so, als täte ich dir leid.“
„Du nicht. Deine Kunst tut mir leid, die du hättest machen können. Auch Schönheit ist wichtig.“
„Darum fange ich die Bösewichter.“
Sie lächelte.
„Und wovon träumst du?“, fragte er.
„Heutzutage? Dass die Bösewichter geschnappt werden“, erwiderte sie und sah ihn dann auf eine Art an, dass er es fast nicht schaffte, den Blick abzuwenden.
Ein Gefühl der Unvermeidlichkeit überwältigte ihn. Es war keine Frage, warum sie hier war oder was sie wollte oder was er wollte. Und als er sich zu ihr vorbeugte, bemerkte er, dass die Entfernung zwischen ihnen größer war, als er gedacht hatte, als sei ihm seine Urteilsfähigkeit abhandengekommen. Nicht nur wegen einem Martini und ein paar Schlucken Wein, sondern tiefgreifend gestört.
Lucian küsste sie wild, verweilte einen scheinbar endlosen Augenblick an ihrem Mund. Er konnte ihre spitzen Schultern an seinen spüren und ihre kleinen Brüste, die sich gegen ihn drückten. Irgendwann öffnete er ihre Haarspangen und löste ihr seidiges Haar, und ihr Duft, die eigenartige Kombination von würzigem Moschus und unschuldiger Vanille, wurde intensiver und hüllte ihn ein.
Ihre Umarmung war von einer Intensität, einer rückhaltlosenEnergie, als zählte in diesem Augenblick nichts anderes mehr, als dass sie beide jetzt, heute Abend so zusammen waren.
So war es auch am Sonntag im Park mit ihr gewesen und vor Jahren mit Solange. Die beiden unterschiedlichen Erfahrungen verschmolzen nur allzu leicht zu einer einzigen. Nein. Er wollte keine Erinnerungen, sondern jetzt nur mit dieser Frau in der Gegenwart sein.
Als spürte sie, was er dachte, zog Emeline sich zurück, ging zur Couch hinüber und griff nach ihrem Weinglas.
Sie nippte einmal, zweimal. Die Lampe in der Ecke des Raumes warf ihren Schatten über den Fußboden und auf die Gemälde.
Lucian ging zu ihr hinüber, setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. Er drehte sie um, dann beugte er sich hinab und küsste ihre Handfläche. Als er den Kopf hob, sah er ihr in die Augen, hielt ihren Blick. „Ich will dich.“ Er flüsterte die Antwort auf die Frage, die sie ihm dieses Mal zum ersten Mal nicht gestellt hatte.
Emeline beugte sich zu ihm vor und antwortete ihm mit einem Kuss auf den Mund. Er vergrub die Finger in ihrem seidigen Haar. Seine Lippen verschmolzen mit ihren, und wenn sie zwischendurch Luft holen mussten, fiel es ihnen gar nicht auf.
Er hatte gesagt, dass er sie wollte, aber das war es nicht. Er wollte ihre Bluse nicht aufknöpfen, ihren BH hochschieben, ihre Brüste in seinen Händen spüren und ihre Haut berühren – es war ein verrückter, verzweifelter Hunger. Und als er all das tat, als er ihre kühle Haut berührte und spürte, wie ihre kleinen Brustwarzen sich aufrichteten, und als sie in seinen Armen erbebte, wusste er, dass es um ihn geschehen war. Dass er in eine andere Dimension glitt, die irgendwie nicht ganz seine Vergangenheit war, aber vielleicht seine Zukunft werden konnte. Sie atmete seinen Atem ein, inhalierte die Luft, dieer ausatmete, und er ihre. Und die ganze Zeit über saßen die Geister von ihm und seiner ersten Liebe auf der anderen Seite des Raums und sahen ihnen zu, denn er und Emeline atmeten die Luft des anderen ein, berührten
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