Der Visionist
einander, lebten ihre Leidenschaft füreinander genauso, und sein Herz wollte brechen von der unendlichen Anmut der lebendigen Frau wie der toten.
„Ich will dich auch“, flüsterte Emeline ihm mit heißem Atem ins Ohr. Er wollte nur noch in ihr versinken, sich verlieren in der Zeitschleife, die ihn in ihrer brutalen, grausamen Umarmung hielt, ihm Verheißungen machte und ihn neckte.
Sobald sie in seinem Schlafzimmer waren, noch bevor er sie berühren konnte, schlüpfte Emeline aus ihren Schuhen und zog sich aus. Nicht für ihn, dachte er, sondern um sich selbst etwas zu beweisen.
Nackt stand sie vor ihm und starrte ihn mit einem unerschrockenen Ausdruck in den Augen an, und als sie redete, sagte sie die allerletzten Worte, mit denen er jetzt gerechnet hätte, genau die Worte, auf die er hätte vorbereitet sein sollen, wenn er auch nicht wusste, wie oder warum. Diese Frau war bei Solanges Ermordung sieben Jahre alt gewesen. Es war einfach nicht möglich, dass sie wissen konnte, was Solange zu ihm gesagt hatte, als sie zum ersten Mal zusammen waren. Nicht Liebe mich , Schlaf mit mir oder Berühr mich – sondern Mal mich. Mal mich, Lucian. Und das hatte er getan. Er hatte Stunden vor ihrem nackten Körper gestanden und an seinem Bild gearbeitet.
Emelines Worte drangen zu ihm durch den Raum, um ihn zu umarmen oder zu ohrfeigen, er war nicht sicher, was. Als er dem lauschte, was sie da leise zu ihm sagte, hörte er Solanges Stimme. Woher konnte Emeline Dinge wissen, die ihr niemand gesagt haben konnte, weil niemand von ihnen wusste außer einer Frau, die seit zwanzig Jahren tot war?
„Mal mich, Lucian.“
Er konnte oder wollte nicht dagegen ankämpfen, und es war ihm egal. Alles stand bereit – die ramponierte Birkenholzkiste, die farbverschmierten Paletten, die Dose voller Marderpinsel und alte Flaschen voller Leinöl und Terpentin – alles war da und wartete auf ihn. Die meisten seiner Leinwände waren gebraucht, aber er fand eine, die nur ein paar blaue Pinselstriche in der oberen Ecke hatte, als hätte er begonnen, einen Hintergrund anzulegen, sei unterbrochen worden und hätte nie weitergemacht.
Als er die Staffelei aufgeklappt und die Leinwand daraufgestellt hatte, hob er den Deckel der Farbkiste, und als ihm der lange eingesperrte Geruch in die Nase stieg, trat Lucian über eine imaginäre Schwelle in sein altes Wohnheimzimmer, das einzige Atelier, das er je gehabt hatte.
Ölfarben trocknen und härten nicht aus, solange die Tuben keine Risse bekommen, und diese hatten keine. Er sah auf die farbverschmierten Etiketten und zog die Farben heraus, die er brauchte, um ihren Hautton zu treffen. Titanweiß, helles Kadmiumrot und gebrannten Ocker. Er drückte die Farben auf die Palette. Die Pinsel, die er immer sorgfältig ausgewaschen hatte, weil sie so teuer waren, fühlten sich weich in seinen Fingern an, und er wählte einen flachen mit einer zulaufenden Spitze.
Er tauchte ihn zuerst in das Weiß, dann das Rot und mischte sie. Er fügte einen Hauch von Gelb hinzu und noch weniger Ocker.
Sie stand ihm frontal gegenüber, verbarg nichts vor ihm, ihr Körper war angespannt, die Arme an ihren Seiten, die Handflächen nach oben gekehrt, ihr kleines Kinn herausfordernd gereckt. Er sollte sie ansehen.
Lucian trug Farbe auf die Leinwand auf, zuerst langsam, dann immer schneller und schließlich wie in Raserei. Er war nicht sicher, wonach er heftiger verlangte – nach ihr oder nach der völligen Hingabe an den Akt des Malens, der einst seineLeidenschaft gewesen war, den er aber aufgegeben und dem Verstand geopfert hatte. Aber das war jetzt egal. Dieser Augenblick war jenseits aller Logik. Seine Gefühle waren jenseits aller Logik.
Wie lange malte er? Wie lange stand sie nackt so da, mit diesem Blick in den Augen, der ihr Verlangen nach ihm verriet und dass er sie malte?
Wie oft führte er den Pinsel in einem heißen Energiestoß von der Palette zur Leinwand, der alles kanalisierte, was er sah und fühlte? Beeilte er sich so, um zu ihr zu kommen, oder war er nur gierig nach mehr von dieser Lust? Denn das war es: reine Lust, über ihre Gestalt hinaus zu sehen, was dieser Frau ihre wirkliche Schönheit verlieh – ihre Zerbrechlichkeit und dehnbare Kraft, ihre Sehnsüchte und Ängste, alles was sie zum Menschen, sie lebendig machte – und es auf die Leinwand zu bannen, mit nichts außer einem Pinsel, Farbe und seinem Talent.
Er hätte noch weitergemalt, aber Emeline bestimmte den Zeitpunkt des Endes, indem
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