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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose M J
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Überraschung!“, begrüßte sie ihn, als sie die Tür öffnete. Eine Brise wehte heraus – sie musste die Terrassentür geöffnet haben – und brachte ihren Duft mit, der ihn zum Eintreten einlud, noch bevor sie selbst es tat.
    Sie trug ein ärmelloses weißes Hemd, weiße Jeans und silberne Ballerinas. Ebenfalls silberne Spangen hielten ihr das blonde Haar aus dem Gesicht. Ihre Augen blickten gehetzt und beunruhigt, mehr noch als beim letzten Mal, als er sie gesehen hatte, ihre Haut wirkte noch durchscheinender. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, dabei war es erst vor drei Tagen gewesen.
    Er war nicht überrascht, wie sehr der Stress ihr zusetzte. Morddrohungen zu erhalten und das Gefühl zu haben, jemand würde einem folgen, war eine Tortur. Er vermutete, dass sie nicht mehr schlafen konnte. Hoffentlich war sie so einsichtig und nahm Schlaftabletten.
    „Ich bin so froh, dass alles gut gegangen ist und du heil wieder da bist.“ Sie zögerte und fügte dann leiser hinzu, als wäre es ein Geheimnis: „Du hast mir sehr gefehlt.“
    Er lächelte. „Du mir auch und …“ Er beendete den Satz nicht. Sie hatte genau dieselbe Formulierung verwendet wie Solange damals, wenn sie ihn einige Tage nicht gesehen hatte.
    Sie sah ihn an mit Erleichterung in der Miene und unverhüllter Freude, ihn wiederzusehen. Er wollte sie fragen, warum sie ausgerechnet diese Worte benutzt hatte, aber gleichzeitig wollte er ihr mit dieser Frage nicht diesen Gesichtsausdruck nehmen.
    „Ich spiele den Postboten.“ Er hielt ihr den Umschlag hin. Sie nahm ihn, warf einen Blick auf den Absender und legte ihn dann auf eine niedrige Bank neben der Tür auf einen Stapel anderer Briefe und Zeitschriften.
    „Ich würde so gerne mal hier raus“, sagte sie. „Ich werde noch verrückt zwischen Andre, meiner Polizeieskorte und den ständigen Anrufen! Könnten wir nicht irgendwo was trinken gehen? Wenigstens bei dir bin ich sicher.“
    Sie setzten sich an einen kleinen Tisch in Bemelmans Bar im The Carlyle und bestellten Martini. Als Lucian an seinem nippte, fiel ihm auf, dass Emeline in der dämmrigen Beleuchtung wirkte wie von einem alten Meister gemalt. Die Hälfte ihres Gesichtes war in tiefen Schatten verborgen, die andere hell erleuchtet; in diesem Hell-Dunkel wirkte ihre Miene mysteriös und schwer zu deuten.
    „Woran denkst du?“
    Sie zeigte auf die fantasievollen Wandmalereien von Hasen und Hunden, Eichhörnchen und Schulkindern, die im Park spielten. „Hier verändert sich nie etwas, nicht?“
    „Nein, nie. Das macht hier den speziellen Charme aus, findest du nicht?“ Er erzählte ihr, wie seine Großmutter mit ihm und seiner Schwester als Kindern hier an Sonntagnachmittagen auf eine heiße Schokolade eingekehrt war. „Meine Schwester war ein riesiger Fan von Ludwig Bemelmans’ Büchern. Jedes Mal, wenn wir herkamen, ist sie zu dieser Wand gepilgert und hat minutenlang Madeline angestarrt. Es hat sie fasziniert, ihre Fantasiefreundin hier in der Realität zu treffen.“ Er nahm einen weiteren Schluck von seinem eiskalten Martini und lächelte. „Das ist die Macht der Kunst.“
    „Warum hast du die Kunst aufgegeben?“
    „Sie war mir nicht mehr wichtig genug. Und du kannst nur dann ein Künstler sein, wenn für dich nichts anderes zählt.“
    Sie nahm ihr Martiniglas mit Fingern, die so zierlich wirkten wie der gläserne Stiel. „Aber du hast all dein Malwerkzeug dort stehen, wo du es immer sehen kannst. Manchmal muss die Sehnsucht sich doch wieder in dir rühren?“
    Er zuckte mit den Schultern. „Manchmal.“
    „Und was machst du dann?“
    Er starrte sie an; nicht sicher, was sie ihn fragte; nicht sicher, ob er zu nervös oder zu argwöhnisch war.
    „Ich gebe nach. Und dann bin ich wieder für eine Weile einarmer Trottel unter vielen, der nie bekommen wird, was er haben will.“
    „Und was wäre das?“
    „Meine Fantasie war genau das Klischee, das du dir vorstellst, Emeline.“
    „Aber du hast dir nicht einmal die Chance gegeben und es versucht. Das ist traurig.“
    „Nur wenn man Sehnsucht – enttäuscht oder nicht – mit Glück gleichsetzt. Und an diese Gleichsetzung glaube ich nun einmal nicht.“
    „Woran glaubst du dann?“
    „Dein Glas ist leer. Ich glaube, dass wir noch einen vertragen könnten.“
    Sie schüttelte den Kopf. „Lieber nicht. Mir steigt der eine schon zu Kopf.“
    „Soll ich dich wieder zur Wohnung deines Vaters bringen?“
    Sie verneinte sofort. „Weißt du, was ich jetzt gerne machen

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