Der Visionist
zufällig am anderen Ende der Leitung, so leid uns das tut. Aber wegen dieses Anrufs wissen wir, dass Sie in der Lage sind, uns zu helfen.“
Das Art Crime Team wollte den Fall endlich lösen, bevor Samuels noch mehr Schaden anrichten konnte. Vielleicht kamen sie durch Lucians Sitzungen mit Dr. Bellmer an die Insider-Informationen, die das FBI brauchte – vielleicht aber auch nicht. Wenn Hawkes sich allerdings auf ihren Vorschlag einließ, würden sie alles erfahren, was sie wissen wollten.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Wir möchten, dass Sie Dr. Samuels einen Bibliothekar empfehlen, den wir Ihnen nennen.“
„Und dieser Mann ist einer Ihrer Agenten?“
„Er ist ein ausgebildeter Bibliothekar. Ich kann Ihnen gerne seinen Lebenslauf vorlegen. Sie sollen Samuels niemanden vorschlagen, den Sie nicht guten Gewissens empfehlen können.“
„Es tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass ich Ihnen dabei helfen kann, Agent Glass.“
„Es sind mehrere Menschen ums Leben gekommen. Wenn wir diesen Mann nicht hinter Gitter bringen, dann werden, fürchte ich, noch mehr sterben. Lassen Sie es sich zumindest noch einmal durch den Kopf gehen.“
„Ja, das werde ich.“
„Da ist noch so ein Zufall.“
„Ja?“
„Bei dem Anruf hat Samuels Ihnen doch erzählt, dass er dringend einen Bibliothekar braucht, weil er kürzlich neue Informationen entdeckt hat. Informationen, aus denen hervorgeht, dass es in der Bibliothek seiner Stiftung Hinweise darauf geben könnte, wo sich weitere Erinnerungswerkzeuge befinden, richtig? Um was für Informationen handelt es sich da wohl? Und wo hat er sie entdeckt? In Wien vielleicht?“
Dr. Hawkes warf Lucian einen durchdringenden Blick zu. „Mir gefällt die Art nicht, wie Sie Menschen manipulieren, Agent Glass.“
„Mir gefällt das auch nicht immer. Aber Mord gefällt mir noch viel weniger.“
Lucian erhob sich, um sich zu verabschieden. Da spürte er sein Handy, das schon zum dritten Mal, seit er hier war, vibrierte. Draußen im Gang vor Hawkes’ Büro schaute er nach, wer angerufen hatte. Alle drei Anrufe waren von Nicolas Olshling vom Metropolitan Museum of Art. Lucian wählte seine Nummer. Das klingelnde Handy am Ohr trat er aus der Bibliothek hinaus in den unaufhörlichen Regen und den brausenden Wind.
13. KAPITEL
Die fast fünf Meter hohe Statue von Noguchi stand wie ein stummer Wächter an der Ecke Fifth Avenue und 80. Straße. Lucian fuhr daran vorbei und bog in die Einfahrt zur Parkgarage hinter dem Metropolitan Museum of Art ab. Er schloss den Wagen ab und ging durch das riesige dunkle Parkhaus zum Museumseingang. Ironischerweise war der Eingang zu dem Gebäude, in dem das größte und umfangreichste Kunstmuseum der westlichen Welt untergebracht war, von hier unten geradezu unspektakulär.
Die in Messing gefassten Glastüren führten in das Kindermuseum. Eine drei Meter lange, anderthalb Meter breite und vielleicht einen Meter hohe Reproduktion des Pantheons war das einzige Kunstwerk in der Halle. Es war umringt von Kindern, die die bunten Statuen auf den Friesen anstarrten und zwischen den Säulen hindurch einen Blick auf die exakt gearbeitete Miniatur der Athena erhaschen wollten. Lucian konnte sich noch gut daran erinnern, wie er als Junge mit seiner Klasse hierhergekommen war und sich immer das wundervolle Modell hatte anschauen wollen.
Für ihn war das Met nicht nur ein Ort, an dem Kunstwerke ausgestellt wurden; es war eine Schatzkammer voller Erinnerungen. Mit nur sechs Jahren hatte er hier seinen ersten Malunterricht erhalten. Jedes Weihnachten waren er und seine Eltern zum Entzünden des riesigen Weihnachtsbaums gekommen, und sie hatten sich oft die neapolitanische Weihnachtskrippe aus dem Barock angesehen, ein wundervolles Diorama, in dem jedes Detail nachgebildet war, glitzernde Bäche und Ziegen, sogar bellende Hunde. Während der Schulzeit hatte er sich anatomisch korrektes Zeichnen beigebracht, indem er die klassischen Statuen im Museum abzeichnete. Mit einer Mappe voll von diesen Zeichnungen war er bei der Kunstakademie aufgenommen worden. Und er hatte Solange hierhergebracht,als sie das erste Mal miteinander ausgegangen waren. Durch eine Abteilung nach der anderen waren sie gelaufen, und für sie beide war es eine Art unbewusster Prüfung gewesen. Die Begeisterung für Kunst war die erste Gemeinsamkeit, die sie an diesem Tag entdeckten. Sie wurde ein Teil der Leidenschaft, die sie bald füreinander empfanden.
Solange hatte sich die Gemälde
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