Der Visionist
ihn zu, um ihn zu begrüßen, und es bildete sich eine Lücke, durch die Lucian ein wildes Durcheinander an Farben erspähen konnte – helles Zitronengelb, ein scharfes Grün, kühles Blau. Er trat näher heran und starrte auf die eingerissenen Streifen und die Fäden der Leinwand. Er tat seinen Job und hörte sich Olshlings Erklärungen an, während er das brutal zerstörte Gemälde untersuchte.
„Es ist ein Matisse.“
Lucian schaute hoch. Eine ungefähr siebzigjährige Frau hatte das gesagt. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und bedachte ihn mit einem finsteren Blick. Sonst war es ihm egal, wie die Leute auf ihn reagierten, doch diese Frau brachte ihn aus der Fassung. Er wandte sich wieder dem Bild zu.
Ja, selbst auf der zerschnittenen Leinwand waren der Stil des Künstlers, seine Farbgebung und die Art, wie er den Pinselführte, gut erkennbar. Es war unzweifelhaft ein Matisse.
„Das Bild hat eine ziemlich turbulente Geschichte“, sagte Tyler Weil. „Es trägt den Titel Blick auf St. Tropez , und es ist schon seit zwanzig Jahren in der nationalen Datenbank des FBI für gestohlene Kunst gelistet.“
Lucian hatte das Bild nur auf Fotos gesehen. Als er es nun endlich vor sich sah und anstarrte, war er trotz allem, was das Gemälde ihm bedeutete, zu keiner Reaktion fähig. Ihm ging nur durch den Kopf, dass die Fotos dem Original nicht annähernd gerecht wurden, nicht einmal im Zustand der Zerstörung.
Plötzlich stieg Magensäure in seine Kehle hoch, und sein Magen verkrampfte sich. Nach außen ließ sich Lucian seine innere Aufregung nicht anmerken. Wie ging das Zitat von Albert Schweitzer noch, das Hawkes ihm gesagt hatte? Der Zufall ist das Pseudonym, das der liebe Gott wählt, wenn er inkognito bleiben will . Aber auch Lucian glaubte nicht an Gott. Wahrscheinlich wusste inzwischen jeder im Raum, dass das Gemälde vor zwanzig Jahren verschwunden war, aber nur Lucian konnte genau sagen, an welchem Tag und zu welcher Stunde. Fast auf die Minute genau wusste er es. Denn dies war das Meisterwerk, das ein unbekannter Einbrecher gestohlen hatte, nachdem er sich heimlich in ein Rahmengeschäft geschlichen, dort zwei Studenten brutal niedergestochen hatte und dann geflohen war. An diesem Tag hatte Solange das Leben verloren, weil sie im Geschäft auf Lucian wartete, der so damit beschäftigt gewesen war, im Atelier den großen Künstler zu spielen, dass er die Zeit vergessen hatte.
14. KAPITEL
Robert Keyes und seine Tochter liefen Richtung Westen die 83. Straße entlang. Er hielt den großen schwarzen Regenschirm über sie, damit sie nicht nass wurde. In der letzten Nacht hatte Veronica wieder einen furchtbaren Albtraum gehabt. Er hatte ihre qualvollen Schreie gehört und war hoch in ihr Zimmer gerannt. Sie hatte sich in ihre Bettdecke verheddert und warf sich hin und her, als wehre sie sich gegen ein namenloses, unsichtbares Monster. Die Haare klebten ihr auf der Stirn, und Tränen rannen über ihre erhitzten Wangen. Sie konnte ihm nur sagen, dass es in dem Traum dunkel gewesen sei. Wer oder was sie so in Panik versetzt hatte – daran erinnerte sie sich nicht. Doch im Moment schien der nächtliche Albtraum vergessen. Veronica erzählte ihm gerade vom Metropolitan Museum of Art, wo sie heute Morgen mit ihrer Schulklasse gewesen war.
„Und dann hat das Handy von Mr Weil geklingelt und er hat telefoniert und dann ist er gaaaanz lang furchtbar still geworden und dann musste er gehen“, beschwerte sie sich. „Gerade als wir das Rokodiehl angeschaut haben.“
Robert vergaß für einen Moment seine Sorgen und versuchte zu verstehen, welche Statue sie meinte. „Das Krokodil?“
„Ja.“
Sie näherten sich dem Gebäude der Phoenix Foundation mit den Türmchen, den farbigen Fenstern und den kunstvoll geschmiedeten Eisengittern. Robert konnte mindestens ein Dutzend Wasserspeier entdecken.
„Schau mal, Veronica!“
„Monsterspeier!“, rief sie begeistert und lachte.
Robert musste grinsen. Veronica erfand für alles immer neue, passendere Namen: Ihr Hund war ein „pelziger Vierbeiner“, und überbackenes Käsesandwich – ihr Lieblingsessen – hieß bei ihr „geschmolzener Käse-Toast“. Nur für die Albträumewusste sie keinen Namen.
Frances ließ Vater und Tochter ein, und im Foyer begann Veronica sofort mit einem selbst erfundenen Spiel, bei dem sie ohne in die weißen Marmorquadrate zu treten, von einem schwarzen Marmorquadrat zum nächsten hüpfte.
„Ihr Termin ist erst in einer
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