Der Visionist
Auge. Tödlicher Unfall am Central Park . Lucian hastete weiter zur Bibliothek der New York Society.
Seit dem Jahr 1937 war die Bibliothek in dem klassischen Sandsteingebäude untergebracht, das von Trowbridge und Livingstone erbaut worden war. Doch bei ihrer Eröffnung im Jahr 1754 hatten die Räume der Bibliothek ursprünglich im alten Rathaus an der Wall Street gelegen, direkt gegenüber der Broad Street. Über hundertfünfzig Jahre lang hatte man von der „Stadtbücherei“ gesprochen. Erst mit der Einführung des öffentlichen Büchereisystems war die alte Bibliothek zu einem beliebten städtischen Denkmal umfunktioniert worden.
Lucian war schon oft an dem Gebäude vorbeigelaufen, doch er war noch nie in der Bibliothek gewesen. Nach der lauten Straße fiel ihm sofort die Stille auf. Für einen Moment blieb er am Eingang stehen. Beim Betreten eines Museums ergriff ihn immer ein Gefühl von Ehrfurcht wie jetzt, als er sich in der Bibliothek umschaute. Er hatte einmal gelesen, die Menschlichkeit einer Gesellschaft könne man daran ermessen, welchen Wert ihre Kunstwerke, ihre Literatur und ihre Musik genossen und wie hoch geistige Leistung geschätzt wurde. An einem Ort wie diesem könnte man fast zum Optimisten werden. Lucians Partner Matt würde diesen Gedanken zu schätzen wissen.
Eine ältere Dame an der Rezeption hatte ihm den Weg beschrieben, und Lucian stieg eine breite Marmortreppe nach oben, ging dann rechts, dann links und landete schließlich beim Büro des Leiters der Bibliothek.
William Hawkes war ein ehrwürdiger alter Herr, dessen Adern unter der dünnen Haut deutlich zu sehen waren. Hawkes begrüßte ihn mit einer erstaunlich jugendlichen Stimme, er drückte Lucian fest die Hand und forderte ihn auf, sich doch zu setzen.
Die Ausstattung des Büros war außerordentlich kostbar. Hawkes saß an einem feingliedrigen Louis-XIV-Schreibtisch, an den breiten Erkerfenstern hingen rubinrote Damastvorhänge, auf dem Boden lag ein Perserteppich, und an drei der Wände standen mit Schnitzereien verzierte Regale aus Walnussholz, die Reihe um Reihe ledergebundene Bücher mit Goldschnitt beherbergten. Die Querbalken der Kassettendecke waren mit goldenen Einlegearbeiten verziert.
„Ich bekomme nur selten Besuch von meinen Freunden vom FBI. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen, Agent Glass?“, erkundigte sich Hawkes, nachdem die beiden Männer ein paar Höflichkeiten ausgetauscht hatten.
„Es geht um Dr. Malachai Samuels. Ich weiß, dass Sie ein enges Verhältnis zu seiner Tante haben. Sie wissen deshalb vielleicht, dass wir schon seit geraumer Zeit gegen ihn ermitteln.“
„Ja, darüber bin ich informiert.“
„Er ist immer noch der Hauptverdächtige mehrerer Verbrechen. Dazu gehört auch ein Raubüberfall, bei dem eine Frau brutal ums Leben gekommen ist. Der Fall liegt erst wenige Tage zurück.“
Hawkes legte beide Hände auf die Tischplatte und stützte sich beim Aufstehen daran ab. Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen trat er ans Fenster und schaute hinunter auf die Straße. Den Rücken zu Lucian gewandt entgegnete er:„Beryl ist von der Unschuld ihres Neffen überzeugt. Sie hat MS. Wussten Sie das?“
„Ja, ich weiß.“
„Stress ist sehr schädlich für sie.“ Hawkes wandte sich zu Lucian um. „Und die letzten achtzehn Monate waren ungemein aufreibend.“ Er schüttelte den Kopf, und eine Strähne seiner dichten weißen Haare fiel ihm in die Stirn.
„Wir haben sehr viele Indizien gesammelt, aber uns fehlt ein direkter Beweis. Deshalb bin ich hier. Ich möchte Sie um Ihre Mithilfe bitten.“
„Wenn man so alt ist wie ich, hat man schon viele Menschen verloren. An den Tod, an Krankheiten, Unfälle … Jeder Verlust ist eine schwere seelische Belastung. Ich will mir gar nicht erst vorstellen, was so eine Sache bei meiner lieben Beryl anrichten wird.“ Die Neuigkeiten hatten ihn sichtlich aufgewühlt. Als er zurück zum Schreibtisch kam, wirkte er schwächer und zerbrechlicher. „Haben Sie schon einmal jemanden verloren, der Ihnen nahestand, Agent Glass?“
Lucian war Tage nach Solanges Tod im Krankenhaus wieder zu sich gekommen. Man hatte ihm so starke Schmerzmittel gegeben, dass er sie weder vermissen noch um sie trauern konnte. Der Angreifer hatte seine Muskeln zerschnitten, und die Chirurgen hatten ihn wieder zusammengeflickt. In den Monaten nach der Attacke hätte er sich mit Solanges Tod auseinandersetzen können, doch er hatte sich stattdessen auf den körperlichen Schmerz
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