Der Visionist
angeschaut, während er immer wieder in ihr hübsches Gesicht blickte – es war perfekt, hatte er damals gedacht, bis auf eine seltsam helle, halbmondförmige Narbe über ihrer rechten Augenbraue, die sie mit ihren Ponyfransen verdeckte. Sie mochte die Narbe nicht und erzählte ihm unterschiedliche Geschichten, wie sie sie bekommen hatte. Einmal war es eine bösartige Babysitterin gewesen, die sie als Fünfjährige mit einem Messer verletzt hatte. Dann war es ein Pudel, der sie als Baby angefallen hatte. Oder es war bei einem Unfall mit einem Hammer passiert, als sie in der Schule ihr erstes Bild an die Wand hängen wollte. Manchmal erzählte sie auch, es sei vom Teufel, dem sie ihre Seele verkauft habe, damit sie besser malen könne.
Er hatte nie erfahren, was wirklich geschehen war.
An einem Nachmittag hatte sie ihm ihr Lieblingsbild gezeigt, Martin Johnson Heades Heraufziehendes Gewitter . In einer kargen Landschaft mit dunklen Wolken, die über einem noch dunkleren See hingen, saß ein junger Mann allein am Ufer und starrte hoch in den bedrohlichen Himmel. „Das ist es, was ich erreichen will“, hatte Solange gesagt, und ihre Stimme hatte gezittert dabei. „So malen zu können, mit einer solchen Autorität und Reinheit. Die Künstler, von denen ich etwas halte, tun alle genau das: Sie zeigen die reine Essenz eines Moments oder eines Gefühls. Alles Überflüssige lassen sie weg.“
Lucian gab sich selten den Erinnerungen an sie hin – dazu war das alles schon zu lange her. Aber Hawkes hatte ihn gefragt, ob er schon einmal jemanden verloren hatte, der ihm nahestand.Und hier im Museum hatten Solange und er so viel Zeit miteinander verbracht.
Sie war anders gewesen als die Frauen, die er nach ihr kennengelernt hatte, was leicht zu erklären war: Denn ihre Beziehung war abrupt durch den Tod beendet worden, sie hatten gar nicht die Zeit gehabt für Streit oder auch nur Veränderung. Wie in einem Bernsteintropfen war ihr gemeinsames Jahr fixiert. Die Art, wie es zerstört worden war, hielt es am Leben, für alle Ewigkeit.
Als er die schlichten, schmucklosen Marmorstufen vom Untergeschoss zur Eingangsebene hochstieg, kamen die Erinnerungen hoch. Nachdem Solange ihm das Gemälde von Heade gezeigt hatte, waren sie zurück in sein Zimmer im Studentenwohnheim gegangen. An diesem Nachmittag hatten sie zum ersten Mal miteinander geschlafen. Doch vorher hatte Solange sich ausgezogen und sich nackt vor ihn gestellt. Er wollte sie schon berühren, doch sie hatte gefragt, ob er sie zeichnen wolle. Mit dem Stift hatte er die Skizze aufs Papier geworfen und dabei vergessen, wie sehr er sie begehrte. Er hatte sich völlig vertieft in seine Vision des schlanken Frauenkörpers vor ihm. Und sie hatte gelacht vor schierer Freude über sein Talent mit dem Kohlestift. Der sichere Strich, die Lebendigkeit – nichts, was er davor oder danach gezeichnet hatte, war so gut wie die Aktzeichnung, die an diesem Nachmittag entstanden war.
Von da an betrachtete er Kunst mit anderen Augen. Damit etwas, das auf Papier oder Leinwand festgehalten war, Bedeutung und Kraft bekam, brauchte es einen Künstler, der Wut und Obsessionen, Leidenschaft und Begeisterung intensiv fühlte. Der brennende Wunsch, einen Moment einzufangen, ihn zu verarbeiten und zu einer einzigen Vision verwandelt an die Welt zurückzugeben – das war es, was Fleiß von Kunst unterschied.
Auf seinem Weg zu Olshling ging Lucian an jahrhundertealten,nackten Kriegern und Athleten vorbei, die in glänzendem Marmor verewigt waren. Jede Statue erzählte die Geschichte des Künstlers und auch die seiner Modelle und der Reisen, die das Kunstwerk zurückgelegt hatte. Manche Geschichten gingen verloren, so wie die Geschichte seiner Liebe zu Solange, die vollends in Vergessenheit geraten würde, wenn er tot war und sie nicht mehr erzählen konnte. Aber selbst wenn die Geschichten verloren waren – berührte ein Kunstwerk einen Menschen, war er verbunden mit dem Leben der Menschen, die es geschaffen hatten, die dafür Modell gestanden, die es gekauft und verkauft, die es geschätzt hatten – sogar mit denen, die es gestohlen hatten.
Tyler Weil, Nicolas Olshling und ein halbes Dutzend weiterer Museumsmitarbeiter versperrten Lucian die Sicht. Doch was immer sie auch anstarrten, das Ding hatte dem Raum jede Energie geraubt. Lucian kam sich vor, als wäre er aus Versehen in eine Totenwache hineingestolpert.
„Agent Glass! Wie schön, dass Sie kommen konnten!“ Olshling kam auf
Weitere Kostenlose Bücher