Der Visionist
Weil wählte die Nummer auf seinem Handy.
Emeline kniete sich neben Andre. Seine Lider flatterten, er öffnete die Augen.
„Emeline?“
„Es ist alles gut. Dir ist nichts passiert“, versicherte sie ihm, und seine Augen fielen wieder zu. Emeline schaute hoch zu Lucian und Olshling. „Können Sie mir helfen, ihn in sein Bett zu bringen?“
„Sollen wir ihn wirklich bewegen, bevor der Notarzt kommt?“, fragte Olshling.
„Ja, er ist schon mal umgekippt. Ihm fehlt nichts weiter.“
Zusammen hoben sie Jacobs hoch und folgten Emeline, die sie zu seinem Schlafzimmer führte. Jacobs wog viel zu wenig. In seinem Alter konnte ein solches Untergewicht nicht gesund sein.
Keine Minute, nachdem sie ihn auf das Bett gelegt hatten, kam er wieder zu sich. Seine Augen waren glasig und blutunterlaufen, als er die Gesichter absuchte, die besorgt auf ihn herabstarrten. „Emeline?“
„Sie ist im Bad und holt Ihre Tabletten. Sie ist gleich zurück“, sagte Lucian.
Emeline setzte sich mit einer Handvoll Tabletten und einem Glas Wasser auf den Rand des Betts. „Würden Sie jetzt bitte gehen, damit mein Vater ein wenig Ruhe hat?“
Lucian und Olshling gingen zurück ins Wohnzimmer, wo Grimshaw und Weil das Gemälde wieder verpackten. Keine fünf Minuten später erschienen ein Notarzt und zwei Sanitäter, und Lucian zeigte ihnen den Weg zum Schlafzimmer. Sie untersuchten den alten Mann, und Lucian kehrte zurück ins Wohnzimmer. Die Leute vom Museum waren inzwischen gegangen.Und obwohl die pralle Sonne durch die Fenster schien und trotz des erbärmlichen Zustands des Gemäldes kam es Lucian so vor, als sei mit dem Bild auch etwas von dem Licht im Zimmer verschwunden. Er ließ sich in einen Sessel bei dem antiken Spieltisch fallen und starrte hinaus auf den Anblick, der ihn schon vor zwanzig Jahren gefesselt hatte. Stolz erhob sich die Skyline der Upper West Side über Tausenden von Bäumen. Es war Juni, und das tiefe Grün der Blätterdecke setzte sich aus Hunderten von unterschiedlichen Farbnuancen zusammen. Fünfzehn Minuten lang analysierte er jede einzelne Schattierung und mischte die Farbtöne in Gedanken auf einer fiktiven Palette. Ultramarinblau und Zitronengelb ergaben ein dunkles Grün. Ein Tropfen Alizarinrot, und die Mischung wurde olivgrün. Fügte man Cölinblau und lichtbeständiges Gelb-Blau dazu, erhielt man Waldgrün. Es war ein albernes Gedankenspiel, und er konnte sich damit auch nicht von dem ablenken, was heute Morgen in Dr. Bellmers Büro geschehen war. Nur als Andre Jacobs den Matisse identifizierte, hatte er es kurz vergessen können.
Lucian glaubte nicht an Reinkarnation. Seit er an dem Fall Malachai Samuels arbeitete, hatte er sich intensiv damit beschäftigt. Unbewusste, angebliche Erinnerungen an frühere Leben waren nichts als ein Beweis für die außerordentliche menschliche Fähigkeit, Geschichten zu erfinden und Traumwelten zu entwerfen. Zugegeben, der Schmerz des jungen Bildhauers hatte sich echt angefühlt, ähnlich wie Lucians eigener Schmerz. Aber war das nicht logisch? Wie konnte es anders sein, wenn die tragische Geschichte ja eine Manifestation seines eigenen Unbewussten war?
Als Emeline die Sanitäter samt ihrer leeren Bahre zur Tür brachte, saß Lucian immer noch am Fenster und mischte im Kopf die Grüntöne des Central Park.
Nachdem sie den Notarzt verabschiedet hatte, setzte Emeline sich zu ihm. „Seine Werte sind stabil. Er muss nicht insKrankenhaus.“ Sie klang müde. „Wahrscheinlich war es nur der Schock wegen des Bildes.“ Ohne auf die mit Ziegenleder bezogene Fläche zu blicken, fuhr sie die goldenen Schnörkel an den Tischkanten nach. Ihre Hände waren unglaublich zierlich.
„Sie sind bestimmt erleichtert.“
„Ja. Ich habe genug von Krankenhäusern. Andre auch.“
„Passiert das öfter, dass er in Ohnmacht fällt?“
Sie nickte. „Sein Blutdruck ist ziemlich niedrig.“
Andre Jacobs hatte nach Gin gerochen. Der Alkohol hatte sicher auch dazu beigetragen, dass er umgekippt war.
„Ich habe noch etwas für Sie“, sagte Lucian.
„Wegen der E-Mail?“
„Ich bin vorher noch bei Broderick vorbei. Er hat den Rückverfolgungsauftrag gestern im Schnelldurchlauf genehmigen lassen, und …
„Ich kann es mir schon denken. Die Polizei konnte nicht herausfinden, von wo die E-Mail abgeschickt wurde.“
„Haben Sie mit Broderick telefoniert?“
„Nein, aber ich habe gelesen, dass es sehr einfach ist, nicht verfolgbare E-Mails zu versenden.“
„Dass sie die
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