Der Visionist
einiges schneller als die drei bis vier Jahre, die wir ohne Frangi bräuchten. Und eine wichtige Sache möchte ich zu bedenken geben: Das Met recherchiert sicher genauso gründlich wie meine Kanzlei, und es ist anzunehmen, dass sie dasselbe herausfinden. Wenn Sie nicht schnell handeln, macht das Museum Frangi vielleicht ein besseres Angebot. Es ist eine sehr reiche Institution.“
„Unsere Regierung ist nicht willens, noch ein Jahr von diesem Theater hinzunehmen.“ Taghinia erhob sich. „Wir kümmern uns um Frangi, aber Sie müssen die Statue schneller herausbekommen.“
„Der vorgeschriebene gesetzliche Prozess kann nicht beschleunigt werden“, erwiderte White mit seiner langsamen, bedächtigen Stimme.
„Doch, das kann er.“
„Bevor Sie gehen, ist da noch etwas, über das wir noch nicht gesprochen haben“, sagte White, ohne auf Taghinias Kommentar einzugehen.
„Und das wäre?“
„Diese archaischen Gesetze und die Diskriminierung von Juden im Iran werden Ihnen vor Gericht keine Sympathien einbringen, vor allem nicht, wenn die Gegenseite sie an die große Glocke hängt. Und wenn das Met zuerst mit Frangi Kontakt aufnimmt, dann werden sie genau das tun.“
Taghinia kramte eine Zigarre hervor und steckte sie sich in den Mund. Samimi war es, als hätte er kurz Ekel in den Augen des Anwalts aufblitzen sehen. Aber White sagte nichts. „Du bleibst hier und findest eine Lösung“, befahl Taghinia seinem Stellvertreter. „Ich habe gleich ein Telefongespräch mit demMinister, zu dem ich nicht zu spät kommen darf. Wenn du hier fertig bist, geh zurück ins Büro. So wie es aussieht, müssen wir heute eine Nachtschicht einlegen.“
Samimi nickte. Nachtschicht war eines der Codewörter, die sie vor dem Besuch der Kanzlei vereinbart hatten. Es bedeutete, dass Samimi vorgeblich so tun sollte, als würden sie sich auf den Vorschlag des Anwalts einlassen. Es bedeutete auch, dass er danach Deborah Mitchell von der Islamischen Abteilung des Metropolitan Museums of Art anrufen und sie wieder zu einem gemeinsamen Abendessen einladen sollte. Es sei von äußerster Wichtigkeit, hatte Taghinia gesagt, dass Samimi bei den nächsten Veranstaltungen des Museums anwesend war.
Wahrscheinlich würde er vor lauter Nervosität Deborahs Gesellschaft in den nächsten Tagen und Wochen gar nicht richtig genießen können. Denn auch wenn sie es nicht wusste, half sie ihm bei einer gefährlichen und schwierigen Mission. Entweder war er danach ein Held im Iran – oder er hatte etwas erreicht, das Samimi sich noch viel mehr wünschte.
26. KAPITEL
Die Nachmittagssonne knallte durch die Fenster und tauchte alle Anwesenden in gleißend grelles Licht. In dem erschöpften, zerknitterten Gesicht von Andre Jacobs war jede Falte überdeutlich zu erkennen. Er stand in seinem Wohnzimmer an der Fifth Avenue inmitten der wertvollen Möbel und den Erinnerungen an ein vergangenes Leben. Vor ihm packte Marie Grimshaw den Matisse aus der Schutzhülle. Jacobs stellte sich dem Gemälde, als wäre es ein Gewehr und er ein meuternder Soldat vor der Hinrichtung. Als sie die letzte Lage Papier entfernte, stöhnte er laut auf.
„Mr Jacobs? Alles in Ordnung?“, fragte Lucian.
Der alte Mann reagierte nicht. Langsam ging er auf das Gemälde zu, nahm es in seine faltigen Hände und drehte es um. Niemand hatte ihm gesagt, wonach er Ausschau halten sollte. Doch er beugte sich sofort zur unteren linken Ecke, wo sich das rote kreisförmige Zeichen befand, von dem keiner der Experten im Met wusste, was es bedeutete.
Das Museum würde noch alle möglichen Tests an dem Bild durchführen, doch für Lucian war der Ausdruck von Erstaunen und Schrecken in Jacobs’ Augen Beweis genug. Das Bild war echt. Dies war der Matisse, der vor so vielen Jahren aus Jacobs’ Werkstatt gestohlen worden war. Es war das Gemälde, für das Solange gestorben war.
Jacobs lehnte das Bild aufrecht an die Wand, dann trat er zurück und starrte auf die zerschnittene Leinwand, auf der die Strandszene noch vage zu erkennen war.
„Ein passendes Denkmal …“, murmelte er leise.
Nur Lucian und Emeline standen so nahe, dass sie die Worte hören konnten.
„Ein passendes Denkmal … für meine Solange.“
Lucian sah, wie seine Schultern nach vorn sackten. Die Bewegung war Warnung genug; er war darauf vorbereitet, alsJacobs zusammenbrach, und konnte ihn auffangen. Olshling war sofort zur Stelle, gemeinsam ließen sie den alten Mann zu Boden gleiten.
„Ich rufe den Notarzt.“ Tyler
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