Der Visionist
E-Mail nicht zurückverfolgen können, heißt noch gar nichts. Sie können immer noch eine Spur finden.“
Sie blickte ihn skeptisch an.
„Die Computerleute bei der Polizei sind wirklich sehr gut, Emeline. Inzwischen sind noch zwei weitere E-Mails eingegangen, und Broderick meinte, die hätten sie noch nicht überprüft. Vielleicht kann man eine der beiden doch zurückverfolgen. Dem Absender muss nur ein einziger Fehler unterlaufen.“
Ein Schauer lief Emeline über den Rücken.
„Sie haben die Mails gelesen?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß, ich hätte sie mir nicht anschauen sollen, aber ich konnte sie einfach nicht ungeöffnet löschen. Da draußen ist jemand, der es auf Vater undmich abgesehen hat. Ich kann seine E-Mails doch nicht ignorieren.“
„Sie ignorieren sie ja auch nicht. Die Polizei überwacht jede eingehende E-Mail. Sie müssen sich das nicht antun und die Mails auch noch lesen.“
„Würden Sie die E-Mails löschen, wenn Sie in meiner Situation wären?“
„Nein, wahrscheinlich nicht. Broderick meint, es wäre immer die gleiche Nachricht.“
„Ich bringe Dich um und Deinen Vater gleich mit .“ Ihre Stimme zitterte.
„Es ist normal, wenn diese Drohungen Ihnen an die Nieren gehen.“
„Es sind nicht die E-Mails.“
„Was dann?“
„Wahrscheinlich bilde ich es mir nur ein …“
„Dafür macht es Sie aber ziemlich nervös. Was ist es?“
Sie schwieg, und Lucian wiederholte seine Frage. „Was ist los, Emeline?“
„Ich hatte heute das Gefühl, dass mir jemand folgt.“
„Wann war das?“
„Heute Nachmittag, auf dem Weg vom Laden hierher.“
„Erzählen Sie mir genau, was passiert ist. Alles, an was Sie sich erinnern können. Auch Kleinigkeiten, die Ihnen vielleicht nebensächlich erscheinen. Es kann alles wichtig sein.“
„Es war auf der Madison Avenue. Ich bin zu Fuß gegangen. Und da hatte ich plötzlich so ein verrücktes Gefühl.“
Sie zögerte, und Lucian nickte. „Das geht vielen Leuten so, die verfolgt werden. Sie spüren zuerst etwas. Erzählen Sie weiter.“
„Ich habe mich umgesehen, aber da war niemand. Alles war wie immer. Ich hab das Gefühl auf meine Paranoia geschoben.“
„Was ist dann passiert?“
„Ich bin weitergegangen, an Schaufenstern vorbei. Und da ist mir ein Mann aufgefallen, der sich in einer Scheibe gespiegelt hat. Ich bin noch ein Stück weiter. Da sind Läden die ganze Straße entlang, und ich hab beim Gehen die Schaufenster im Auge behalten. Der Mann ist mir anderthalb Blocks nachgelaufen. Ich hab es mit der Angst gekriegt und bin ins E.A.T., das ist ein Restaurant auf der 80. Straße. Ich wollte nur noch weg von dem Kerl.“
Lucian nickte wieder. „Ich kenne das Restaurant. Nicht gerade billig.“ Er lächelte. „Wie hat der Mann reagiert? Konnten Sie ihn vom Restaurant aus sehen?“
„Er ist weitergelaufen.“
„Hat er in das Restaurant hineingeschaut?“
„Nein.“
„Konnten Sie vielleicht sein Gesicht sehen?“
„Er war zu schnell an dem Restaurant vorbei.“ Sie überlegte kurz und schien sich den Moment zu vergegenwärtigen. „Nein“, sagte sie dann. „Da war eine Frau, die mir im Blickfeld stand.“
Lucian zog sein schwarzes Notizbüchlein heraus. „Erinnern Sie sich an sonst irgendetwas? Seine Haarfarbe?“ Er wartete mit gezücktem Stift.
„Nein.“
„Was hatte er an?“
„Er hatte eine Baseballmütze auf dem Kopf. Sie war dunkel. Blau oder schwarz.“ Sie schien überrascht, dass ihr das Detail eingefallen war.
„War er groß? Eher klein?“
„Ich weiß es nicht. Groß. Das ist doch Wahnsinn. Wie kann jemand im Ernst denken, dass ich … dass Solange sich nach all der Zeit an ihn erinnern würde? Von der angeblichen Reinkarnation mal ganz abgesehen.“ Sie klang zerknirscht, als mache sie sich Vorwürfe. „Irgendein Mann ist zufällig in die gleiche Richtung gegangen wie ich. Das ist alles. Ich habe überreagiert.“
Beim Reden fuhr sie die Rillen in der Stuhllehne entlang. Lucian hätte am liebsten ihre Hand genommen und sie beruhigt. Sie hatte Angst und das aus gutem Grund. Ob Reinkarnation wirklich möglich war oder nicht, spielte keine Rolle. Irgendein Verrückter da draußen glaubte daran, und deshalb war die Bedrohung ernst. All die Jahre hätte Lucian alles darum gegeben, um herauszufinden, wer den Matisse gestohlen und Solange ermordet hatte. War das hier endlich seine Chance? Konnten sie den Täter vielleicht aufschrecken und aus seinem Versteck locken? War Emeline
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