Der Visionist
so mutig, dass sie ihnen helfen würde, wenn sie einen Lockvogel brauchten?
„Wahrscheinlich haben Sie recht, und es ist nichts. Diese E-Mails würden jeden nervös machen. Aber ich werde Broderick trotzdem bitten, dass er Sie unter Personenschutz stellt. Zumindest für die nächsten paar Tage.“
„Das ist wirklich nicht nötig.“
„Doch, ich glaube, es ist nötig. Wo wohnen Sie?“
„Ich habe ein Apartment auf der West Side, aber in den letzten Wochen habe ich hier geschlafen, seit Andre von seiner Reise zum Sinai zurück ist.“
„Gibt es einen Pförtner bei Ihrem Apartment?“
„Nein, das Haus ist ein altes Brownstone.“
„Gehen Sie nicht mehr dorthin, bis wir die Sache mit den E-Mails geklärt haben.“
„Das hatte ich sowieso nicht vor. Dad braucht mich noch.“ Sie hielt kurz inne, dann fragte sie: „Würden Sie mir einen Gefallen tun?“
„Wenn ich kann.“
„Sie versprechen nie zu viel.“ Sie brachte ein Lächeln zustande.
„Gut, ich tue Ihnen den Gefallen. Um was geht es?“
„Sagen Sie meinem Vater nichts von den E-Mails. Er macht sich schon genug Sorgen.“
„Von mir erfährt er nichts.“
Sie wandte sich ab und blickte zum Fenster hinaus, als warte irgendwo anders, in einer anderen Zeit, eine Nachricht auf sie. Sie saß bewegungslos wie die Marmorstatuen auf der anderen Straßenseite in der Sammlung für Griechische und Römische Kunst, und ihr Gesichtsausdruck war ebenso unergründlich wie der der Skulpturen. Warum hatte er trotzdem das Gefühl, dass er genau wusste, was in ihr vorging?
„Sie denken, es ist Ihre Aufgabe, für ihn da zu sein, weil er immer für Sie da war. Aber das stimmt nicht.“
Sie fuhr herum. „Sie wissen fast nichts über mich. Und was ich für meine Aufgabe halte, wissen Sie erst recht nicht.“
„Tut mir leid. Sie haben recht.“
„Er ist krank, schwer krank sogar. Und die Trinkerei macht es nur schlimmer, aber ihm ist es anscheinend egal. Am Tag hält er sich meistens noch zurück, aber sobald die Sonne untergeht, ist es vorbei mit seiner Disziplin. Wenn es dunkel wird, fängt er an zu trinken.“
Es war nicht viel, was sie ihm gerade über ihr Leben mit Andre Jacobs verraten hatte, aber offenbar war damit das Siegel der Verschwiegenheit gebrochen. Sie hob kurz die Schultern, als wäre nun sowieso egal, was sie ihm sonst noch alles anvertraute. Dann erzählte sie Lucian, in einem fließenden Singsang von Worten, was geschehen war, als sie als Kind nach ihrem Unfall aus dem Koma erwacht war.
„Ich habe gehört, wie Martha und Andre mit der Frau von der Jugendfürsorge über mich geredet haben. Sie dachte, ich schlafe. Im Krankenhaus war man davon ausgegangen, dass Andre und Martha mich zu sich nehmen, sobald ich entlassen wurde. Aber jetzt sagten sie, dass sie es nicht tun könnten. Ich ließ meine Augen zu und bekam das ganze Gespräch mit. Sie sagten, dass sie noch um ihre eigene Tochter trauerten. Sie waren sich nicht sicher, ob sie es verkraften würden, wenn ich da war. Es sei zu früh für sie, hat Andre gesagt. Meine Eltern und mein Bruder waren tot. Ich hatte niemanden mehr – außermeiner Tante und meinem Onkel. Genau hatte ich nicht verstanden, was passiert war, aber ich wusste, dass es sonst niemanden mehr gab. Ich wollte unbedingt mit zu ihnen nach Hause. Aber wie konnte ich sie dazu bringen?“
Sie hielt einen Moment inne. „Ein paar Tage zuvor hatten mir die Ärzte die Verbände abgenommen, und meine Tante hatte angefangen zu weinen, als sie die Narbe auf meiner Stirn sah. Solange hatte an fast der gleichen Stelle eine sehr ähnliche Narbe gehabt. Am Anfang konnte Martha kaum hinschauen. Andre musste sie aus dem Zimmer bringen. Irgendwie ist mir deshalb diese jämmerliche Idee gekommen. Als die Frau von der Fürsorge weg war, habe ich so getan, als würde ich erst jetzt aufwachen. Ich habe Martha und Andre erzählt, Solange hätte mich im Traum besucht und mir gesagt, die Narbe auf meiner Stirn sei ein Zeichen, damit jeder wüsste, dass sie nun ein Teil von mir sei. Es war alles erfunden – eine beeindruckende Geschichte, die sich ein verängstigtes Kind mit einer blühenden Fantasie ausgedacht hatte. Aber es hat funktioniert. Ich habe gelogen, und die beiden haben mir meine Lügengeschichte abgenommen. Mit dieser Lüge hat dieser ganze Wahnsinn angefangen von wegen, Solange sei in mir wiedergeboren.“
„Sie sollten sich selbst keine Vorwürfe …“
Emeline unterbrach ihn. „Doch, sollte ich. Martha hat mir sofort
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