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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose M J
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geglaubt, sie hat nicht eine Sekunde gezweifelt. Ich glaube nicht, dass Andre mir die Geschichte jemals wirklich abgenommen hat, aber er wollte sie glauben. Er hat es versucht. Aber es war einfach zu viel für ihn. Zu seltsam. Zu unverständlich. Zu der Zeit ist der Alkohol zum Problem geworden. Er kam oft schon betrunken aus dem Laden nach Hause, und er und meine Tante fingen an sich zu streiten. Sie sind bei ihren Auseinandersetzungen nie laut geworden. Im Gegenteil, wenn ihre Stimmen leiser wurden, wusste ich, dass es wieder Streit gab. Ich habe mich immer im Flur versteckt und ihnenzugehört, aber ich war nie direkt dabei. Spätestens als sie mich zur Phoenix Foundation brachten, hätte ich die Wahrheit sagen müssen. Ich hätte es ihnen sagen müssen. Aber es war zu spät. Es betraf nicht mehr nur mich und Martha und Andre, die Geschichte war zu etwas Größerem geworden. Und ich hatte immer noch Angst, dass sie mich eines Tages einfach wegschickten.“
    „Es tut mir wirklich sehr leid. Sie müssen als Kind sehr einsam gewesen sein“, sagte Lucian.
    Emeline wollte etwas erwidern, doch dann drehte sie sich um und schaute in Richtung des Schlafzimmers. „Ich glaube, er ist wach. Bitte warten Sie, ich schaue schnell, wie es ihm geht.“
    Lucian wartete. Sie hatten oft an dem Spieltisch gesessen, während des Sommers, den er mit Solange in der Wohnung ihrer Eltern verbracht hatte. Auf dem Ziegenlederbezug war eine ausgebleichte Stelle, ein länglicher, unregelmäßiger Fleck. Er war ihm noch nicht aufgefallen, aber jetzt erinnerte er sich, wie Solange an einem Abend im Spaß einen Kellner imitiert und ihm mit französischem Akzent und viel Schwung ein Glas Wein eingeschenkt hatte. Sie hatte zu schnell eingegossen, und der Wein war über die gesamte Tischplatte geschwappt.
    „Mein Vater ist wach. Wenn Sie wollen, können Sie jetzt ein paar Minuten mit ihm sprechen.“
    Lucian drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Der staubige Glanz der untergehenden Sonne umgab sie. Emeline war hell, Solange dunkel; sie war kühl und Solange warm; sie war verschlossen, während Solange ihm immer vertraut hatte. Doch für einen Augenblick sah er Solange dort stehen, und sie war so lebendig und real, dass es ihm den Atem verschlug. Dabei wusste er genau, dass die Gestalt nicht Solange war, auch wenn seine Fantasie es ihm vorgaukelte.
    „Was ist?“ Ihre Stimme war leise und eindringlich.
    „Das Licht – für so ein Licht würde ein Maler fast allestun.“ Die Antwort überraschte ihn selbst. Er hatte eigentlich gar nicht auf ihre Frage eingehen wollen.
    Im Schlafzimmer war nichts von dem Sonnenuntergang zu sehen, die elfenbeinfarbenen Damastvorhänge waren zugezogen. Andre Jacobs saß aufrecht im Bett, er hatte einen dunkelblauen Seidenbademantel übergezogen. Kissen stützten ihn im Rücken, und er wirkte ziemlich gebrechlich. Emeline setzte sich in einen breiten Lehnstuhl im Dunkel auf der anderen Seite des Betts. Lucian blieb stehen. „Ich bin froh, dass es Ihnen wieder bessergeht, Mr Jacobs.“
    „Ohne Sie wäre es gar nicht so weit gekommen.“
    Lucian senkte leicht den Kopf. Jacobs hatte recht, er war auf eine Art verantwortlich. „Es gibt außer Ihnen niemanden, der von dem Zeichen auf der Rückseite der Leinwand wusste. Ihre Hilfe ist entscheidend für diesen Fall.“
    Jacobs hob die linke Hand und ließ sie wieder fallen, wie ein trockenes Blatt, das vom Wind durch die Luft geweht wurde. „Dann haben Sie also sonst niemanden mehr, nur noch mich alten Mann. Sie brauchen mich, nicht, weil ich der Beste bin, sondern weil außer mir keiner mehr lebt, der das Gemälde identifizieren kann. Ist es noch hier?“
    „Nein. Es wurde ins Museum zurückgebracht.“
    Jacobs nickte.
    „Dann denken Sie also, dass es der Matisse war, der aus Ihrer Werkstatt gestohlen wurde? Haben Sie das Zeichen wiedererkannt?“
    „Es ist zwanzig Jahre her. Das ist eine lange Zeit, wenn man sich so genau an ein Bild erinnern soll.“
    „Ja. Es ist lange her.“
    „Ein ganzes Leben lang. Ein ganzes ruiniertes Leben lang“, sagte Jacobs bitter und wandte sich im nächsten Moment zu Emeline. „Tut mir leid, ich bin noch nicht wieder klar im Kopf. Das war nicht fair dir gegenüber. So habe ich es nicht gemeint.“
    „Ist schon gut.“ Emeline nahm seine Hand.
    „Ich möchte mit Agent Glass alleine sprechen, Emeline.“
    „Bist du sicher?“
    Er nickte und sah ihr nach, als sie das Zimmer verließ. Erst dann blickte er wieder zu

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