Der Visionist
Teppich verschluckte ihre Schritte, und Samimi lächelte heimlich darüber, wie weit sich Perserteppiche in den USA verbreitet hatten.
Es war schon ziemlich spät für eine wichtige Besprechung, doch Lou White hatte den Termin vorgeschlagen, weil er den ganzen Tag bei einem Termin außerhalb New Yorks gewesen war. Als die beiden Männer in sein Büro traten, entschuldigte der Anwalt sich als Erstes für die Umstände. „Willkommen in meinem bescheidenen Büro“, sagte er dann und lud sie mit einer Geste ein, weiter in den Raum zu kommen.
Whites Ironie war angebracht. Sein Büro mit dem schweren Mahagonischreibtisch und den riesigen Fenstern, durch die man den Central Park aus der Vogelperspektive bewundern konnte, war mehr als beeindruckend. Die Urkunden seiner akademischen Titel hingen an einer Wand, in Leder gebundene Bücher füllten die mächtigen Regale. Der Anwalt selbst war eine ähnlich beeindruckende Erscheinung. Samimi beneidete amerikanische Männer wie White, die wie Superman aussahen, groß, athletisch gebaut, mit ausgeprägten Gesichtszügen, rötlich blondem Haar und einem von der Sonne gebräunten Teint.
Das Leben hing von einem großen Zufall ab – der Ort der Geburt bestimmte das Schicksal der Menschen. Lou White würde nie ohne jede Warnung gefeuert und in ein Land abgeschobenwerden, in das er nicht mehr gehörte, um dort ein Leben zu fristen, das er nicht mehr ertragen konnte. Samimi wollte nur eins: die Gewissheit, dass er so lange er wollte in den USA bleiben konnte.
„Darf ich Ihnen Kaffee bringen lassen? Tee? Ich habe auch etwas Stärkeres anzubieten, falls Sie Alkohol trinken.“ White deutete zu der Bar, die auf dem Wandtischchen hinter ihm aufgebaut war.
Taghinia war gläubig, weshalb Samimi in seiner Gegenwart nicht trank. Doch er schaute sehnsuchtsvoll zu der Flasche Whiskey. Beim Gedanken an einen Drink lief ihm das Wasser im Mund zusammen, gleichzeitig machte es ihn nur noch wütender. Er wollte ein echtes Leben, nicht diese Farce von einer Existenz. Sein Boss trank Tee mit Zucker, also sagte Samimi, dass er das Gleiche wolle. Während White die Sekretärin die Getränke bringen ließ, musterte Samimi die Kleidung des Anwalts so genau, als müsse er nachher einen Test darüber ablegen. Dunkelblauer Anzug, hellblaues Hemd, eine blaugrau gestreifte Krawatte. Die Kleidung Whites, sein Auftreten und das Büro – alles war darauf abgestimmt, einen vertrauenswürdigen Eindruck zu erwecken.
„Am Telefon sagten Sie, es gäbe Neuigkeiten? Darf ich hoffen, dass Sie eine gute Nachricht für uns haben?“, fragte Taghinia.
Immer fällt er mit der Tür ins Haus, dachte Samimi. Taghinia hielt nichts von den höflichen Nettigkeiten, mit denen man eine Geschäftsbeziehung aufbaute. Deshalb nahm Taghinia auch niemanden für sich ein, und niemand strengte sich besonders an für ihn.
„Es ist eine gute Nachricht“, nickte White, aber er verriet ihnen nicht sofort, um was es ging. Stattdessen nahm er einen Ordner vom Schreibtisch, öffnete ihn und überflog die ersten Seiten, fand offenbar nicht, was er suchte, klappte ihn wieder zu, nahm einen zweiten Ordner zur Hand und las in diesem.
Samimi fragte sich, ob White sie mit Absicht warten ließ, als eine Art Machtdemonstration. Der Anwalt war Partner in einer der renommiertesten Sozietäten New Yorks; er ließ sich nicht von einem Mandanten hetzen.
„Ja, hier ist es“, sagte White, während er das Blatt Papier in seiner Hand noch überflog. „Wir haben etwas über den Archäologen herausgefunden, der die fragliche Statue im 19. Jahrhundert aus Persien in die USA überführt hatte. Er war für zwei Morde verantwortlich. Wussten Sie das?“
„Nein“, stieß Taghinia hervor. „Aber welche Rolle spielt das schon?“
„Eine große Rolle. Lassen Sie es mich Ihnen erklären. Es geht um ein Ehepaar, das in dem Haus über der Krypta wohnte, in der die Statue gefunden wurde. Sie kamen während der Ausgrabungen ums Leben.“
„Ist die Krypta eingestürzt?“, fragte Taghinia ungeduldig.
Der Blick des Anwalts schien Samimi etwas genervt, aber der Tonfall in seiner Stimme war vollkommen ruhig und professionell.
„Nein, die beiden sind umgekommen, als sie den Archäologen davon abhalten wollten, die Objekte aus der Krypta herauszuschaffen. Die Schätze befanden sich seit fast dreihundert Jahren im Besitz der Familie.“
„Und wie soll uns das weiterhelfen?“, fragte Taghinia.
Nun runzelte White doch die Stirn. „Nach den damaligen
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