Der Visionist
Lucian. Die Farbe seiner Augen wirkte verwaschen, dabei hatten sie früher geleuchtet wie grüne Jade, genau wie die von Solange.
„Sie hat außer mir keine Familie mehr, und an mir hat sie nicht viel. Sie hat etwas Besseres verdient, nachdem sie so viele Menschen verloren hat.“
„Sie haben beide viel verloren.“
Jacobs machte nur die Augen zu und lehnte sich tiefer in die Kissen zurück. Einen Moment lang schwieg er, dann begann er mit geschlossenen Augen zu reden, so als würde er eine Geschichte erzählen.
„Der Matisse hat nur einen einzigen Besitzer gehabt. Aaron Flaxman hat das Bild direkt vom Künstler erstanden und es nie weiterverkauft. Es hat ihm sehr viel bedeutet. Bevor Hitler in Paris einmarschiert ist, hat er es aus der Stadt geschafft. Flaxman war einer der wenigen Glücklichen, die den Gerüchten vom Anmarsch der Nazis Glauben schenkten. Seine Sammlung war schon lange außer Landes und in Sicherheit, als das Monster die Stadt plündern ließ. Dafür hat Flaxman einem amerikanischen Geschäftsmann sein halbes Vermögen überschrieben. Tausende wollten es ihm nachtun, aber sie hatten nicht so viel Glück wie er. Das runde Zeichen ist auf fast allen Bildern, die er aus Frankreich geschmuggelt hat. Es ist wie eine Art Brandmal. Für gewöhnlich ist es auf dem Teil der Leinwand versteckt, der um den Rahmen gespannt wird. Flaxman hat es dort anbringen lassen, falls Bilder verloren gehen würden und er beweisen müsste, dass sie ihm gehörten. Ich glaube nicht, dass er vielen Leuten davon erzählt hat. Mir hätte er es wahrscheinlich auch nicht gesagt, aber das Zeichen an dem Matisse war auffälliger als an anderen Bildern.Am Ende brauchte er das Zeichen auch nicht zur Wiedererkennung. Sein Kurier war ehrlich und verschwand nicht mit der Sammlung, kaum dass er die USA erreicht hatte.“
Jacobs atmete tief aus. „Die Familie Flaxman konnte ebenfalls in die USA fliehen. Die Flucht kostete Aaron die andere Hälfte seines Vermögens, aber seiner Ansicht nach hatte er alles in Sicherheit bringen können, was ihm am Herzen lag – die Menschen und die Bilder, die er liebte. Damit baute mein Freund sein neues Leben in New York auf. Er erwarb sich bald wieder einen Ruf als Kunsthändler. Seine Galerie lag nicht mehr an der Rue La Boétie, sondern Ecke Madison Avenue und 66. Straße. Dort kaufte und verkaufte er Kunst. Die zehn Gemälde, die er aus Frankreich in die USA geschmuggelt hatte und die er in seinem Testament dem Metropolitan Museum of Art hinterlassen hat, waren der Grundstock seiner Sammlung. Es waren die einzigen Bilder, die er nie verkaufte. Die Überlebenden hat er sie genannt – und für ihn waren sie schon allein wegen ihrer Geschichte etwas Besonderes. Nach dem Krieg kamen sie ihm noch schöner vor als vorher, und vielleicht hat die Flucht vor dem Krieg ihnen wirklich etwas Magisches verliehen. Er hat sie restauriert und gerahmt hinterlassen. Ich nehme an, das Met hat die Bilder nie aus den Rahmen gelöst, und deshalb sind niemandem die runden Zeichen aufgefallen. Aber sie sind da.“ Jacobs seufzte und schloss wieder die Augen. Für einen Moment dachte Lucian, dass er vielleicht eingeschlafen wäre, doch dann erzählte Jacobs weiter von seinem alten Freund.
„Er war ein Romantiker. Hitlers Wehrmacht hatte die deutsche Seite seiner Familie dezimiert, er hatte das Schlimmste gesehen, das ein Mensch einem anderen antun kann. Und trotzdem fand er, dass seine Bilder durch dieses ganze Martyrium noch schöner geworden waren. Der Matisse hat die Gestapo überlebt und die Gaskammern und den Horror, der sechs Millionen Juden das Leben gekostet hat. Und dann wird das Gemälde in meiner Obhut …“
Er hatte bestätigt, dass es sich wirklich um einen echten Matisse handelte. Lucian hatte erfahren, was er wissen musste. Der einzige Mensch, der es ihm hatte sagen können, hatte ihm alles erzählt. Er drehte sich um und wollte gerade die Tür öffnen, als die dünne Altmännerstimme ihn stoppte. Anscheinend war Jacobs noch nicht fertig.
„Wissen Sie, was ich nicht vergessen kann? Dass er mir nie einen Vorwurf gemacht hat. Er hat mir nie auch nur mit einem Wort die Schuld gegeben. Bei Solanges Beerdigung war er dabei, und er hat Tag und Nacht bei mir gesessen in der Trauerwoche. Heute denke ich, er hat um sein Bild getrauert. Er hat mit mir geweint und wollte mir Mut zusprechen, aber mich konnte niemand trösten. Ich hatte sie an dem Tag im Laden zurückgelassen. Ich selbst … hatte sie …
Weitere Kostenlose Bücher