Der Visionist
nicht zu ihr, Lucian. Ich kann nicht Solange sein, damit du deine Schuldgefühle überwinden kannst. Tu nicht du mir das auch noch an!“
Sie wandte sich um, rannte durch die Bäume vollends den Hügel hoch und verschwand auf der anderen Seite.
30. KAPITEL
Es war Montag, und Elgin Barindra machte während der Mittagspause einen Spaziergang. Draußen waren es vierundzwanzig Grad, doch kaum saß er wieder an seinem Arbeitsplatz, zog er die braune Wolljacke über. In den Räumen der Bücherei im Untergeschoss der Phoenix Foundation war es immer eine Spur zu kalt.
Er beugte sich über die Edelstahltischplatte und untersuchte eine verschnörkelte ägyptische Briefmarke mit einem Poststempel aus dem Jahr 1881. Sie klebte auf einem dicken cremefarbenen Briefumschlag. Es war der zehnte Brief, den er heute begutachtete, einer von Hunderten von Briefen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, von denen keiner professionell katalogisiert worden war. Das Papier war vom Alter bräunlich und die Ecken und Kanten so brüchig, dass er jeden Abend, wenn er nach Hause ging, ein seltsames Konfetti aus uralten Papierfetzchen auf dem Tisch hinterließ.
Als Adresse hatte der Absender dieses Briefes nur Davenport Talmage, Phoenix Club, New York City, New York auf den Umschlag geschrieben. Die Schrift war altmodisch, die Buchstaben krakelig, doch offensichtlich von einem geübten Schreiber verfasst. Auf dem Umschlag standen weder ein Straßenname noch eine Postleitzahl. Elgin war schon von der Tatsache fasziniert, dass Manhattan einmal eine so kleine Stadt gewesen war, in der Phoenix Club als Adresse ausreichte, um den Brief zum richtigen Adressaten zu befördern.
Mein lieber Davenport!
Ich schreibe Ihnen wegen eines Artikels, den ich in Bälde zu publizieren gedenke und der einige Kontroversen auslösen wird. Hier in Ägypten konnte ich Papiere über gewisse Amulette, Schmuckstücke und Statuen einsehen. Diese Dokumente legen nahe, dass die antiken Erinnerungswerkzeuge, für die Sie sich so interessieren, tatsächlich existieren und nicht nur Legende sind. Ich glaube, ich kann nun beweisen, dass sie viel früher als 1500 vor Christus aus Indien nach Ägypten geschmuggelt wurden. Sie sehen – damit sind die Historiker widerlegt, die behaupten, die frühen Handelsrouten wären erst viel später entstanden. Wenn ich meine Erkenntnisse publiziere, wird dies gewiss zu einer lebhaften Debatte zwischen den Professoren meiner und Ihrer Alma Mater führen – aber ich liebe solche Debatten ja mindestens genauso sehr wie Sie.
Ich werde gegen Ende des Monats von meiner Reise zurück sein und nach New York kommen. Gerne suche ich Sie im Club auf und zeige Ihnen, was ich entdeckt habe. Ich bin mir gewiss, dass meine Erkenntnisse auf größtes Interesse stoßen werden.
Mit besten Grüßen
John MacGregor
Luxor, Ägypten, 1881
Faszinierend, aber keine spezifischen Informationen. Elgin notierte sich das Wesentliche auf einem Notizblock, dann nahm er den Brief in den Katalog auf und legte ihn in einer der Archiv-Schachteln ab. In der nächsten Stunde verfuhr er mit weiteren sechs Briefen genauso. Die meisten der Schreiben waren entweder an Trevor Talmage oder dessen Bruder Davenport gerichtet. Sie unterhielten beide einen ausufernden Schriftverkehr mit Wissenschaftlern, Philosophen, Historikern, Forschern, Archäologen und Theologen auf der ganzen Welt. Bis jetzt war Elgin durch fünf der Schachteln gegangen, und es warteten noch mindestens fünfzehn mehr auf ihn.
Er war gerade mitten im nächsten Brief, als jemand die Bibliothek betrat. Malachai Samuels’ kultivierte Stimme drangzu ihm in den hinteren Raum. „Guten Tag, Elgin! Kommen Sie gut voran?“
Im nächsten Moment trat Samuels herein, nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben den Bibliothekar. Sofort beugte er sich über den letzten Brief, den Elgin katalogisiert hatte. „Wie war wohl die Reaktion auf diese Nachricht?“, sagte er und blickte hoch zu den Regalen voller Schachteln mit Ephemera, die noch niemand sondiert hatte. Dann erschien ein hintergründiges Lächeln auf seinen Lippen.
„Ich bin schon sehr gespannt darauf, welche Schätze Sie in den Briefen entdecken. Extrem wichtige Informationen könnten in ihnen verborgen sein. Vielleicht sogar ein echter Beweis für …“ Er brach ab und seufzte. „Können Sie sich vorstellen, was dann geschehen würde? Wie würde die Welt darauf reagieren, wenn es einen unwiderlegbaren Beweis für die Reinkarnation
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