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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose M J
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um sie herum klangen falsch. Wir sollten über diese Dinge in einem düsteren, fensterlosen Raum reden , dachte Lucian, nicht am hellen Tag, nicht unterbrochen von Kindergeschrei und bel lenden Hunden und Fahrradklingeln.
    „Wie lange hat es gedauert, bis Sie über Solange weg waren? Bis Sie sich in jemand anderen verlieben konnten?“
    „Ich war neunzehn … Ich weiß nicht … irgendwann …“ In Wirklichkeit konnte er nicht beschreiben, wie er den Mord überwunden hatte und wie er doch nie darüber hinweggekommen war. Lucian konnte nicht über Solange reden, mit niemandem, und schon gar nicht mit dieser Frau, die so eng mit ihr verbunden war. Was er fühlte, war ein kompliziertes Geflecht aus verwickelten, widerstreitenden Emotionen, die irgendwo tief in ihm verborgen waren, sodass er sich ihnen nie stellen musste.
    „Beziehungen, die so enden, werden in der Erinnerung oft idealisiert“, sagte Emeline. „Vor allem, wenn man so jung war wie Sie damals, und die Liebe noch etwas ganz Neues. Andre hat Solange auch auf ein Podest gestellt.“ Sie seufzte. „Für ihn wird sie immer neunzehn und wunderschön sein, so überaus talentiert und so voller Potenzial.“
    „Und Sie konnten diesem idealisierten Bild nie entsprechen? Sie konnten dieses Potenzial nie erfüllen?“
    Sie warf ihm von der Seite einen Blick zu und ein trauriges Lächeln. „Gibt es irgendjemanden, der das könnte? Diese Frage können Sie wahrscheinlich besser beantworten als jeder andere Mensch. Hat irgendjemand eine Chance gegen Ihre Erinnerungen an Solange?“
    Sie bewegten sich durch ein Wäldchen von Magnolienbäumen mit verwachsenen Stämmen, glänzenden dunkelgrünen Blättern und ein paar wenigen hellrosa Blüten, die noch nicht verblüht waren. Die Bäume in dem Bild von Van Gogh aus dem Museum hätten genauso gerochen wie der Duft, der sie umgab – süßlich, mit einem Hauch Zitrus.
    Sie stiegen schweigend weiter den Abhang hoch, und als sie oben waren, hatte Lucian ihre Frage immer noch nicht beantwortet. Emeline blieb neben einem der Bäume stehen. Siestützte sich mit der Hand am Stamm ab, mit der anderen griff sie hoch und pflückte eine Blüte. Ihre Finger lagen auf einem verwitterten Zeichen, das jemand vor Jahren mit einem Taschenmesser in die Rinde geritzt hatte: eine S-förmige Linie, die sich um eine gerade Linie wand.
    Lucian zuckte zusammen, als er sich plötzlich erinnerte. Er und Solange waren einmal zum Picknicken in den Park gekommen, sie hatten eine Flasche Wein, ein Baguette, Äpfel und Käse mitgebracht, und genau an dieser Stelle hatten sie alles auf einem Tuch ausgebreitet. Solange hatte diese romantische Vorstellung vom ultimativen Picknick im Kopf gehabt, aus einem Film, den sie vor Kurzem gesehen hatte. Sie hatte einen Gedichtband mitgebracht und ihn gebeten, daraus vorzulesen. Er hatte sich über sie lustig gemacht, aber dann hatte er sich doch darauf eingelassen. Er las ein Gedicht vor, das von unglücklich Liebenden handelte und davon, wie schnell doch die Zeit vergeht. Es hatte Solange deprimiert. Er hatte versucht, sie aufzuheitern, aber sie ließ sich nicht aus der traurigen Stimmung reißen.
    Was, wenn uns auch so etwas passiert? , hatte sie gefragt. Niemand wird sich an uns erinnern. Irgendeinen Beweis muss es doch geben, dass wir zusammen waren. Etwas, das die Zeit überdauert.
    Lucian hatte sein Schweizer Taschenmesser hervorgeholt und ihre beiden Initialen in den nächsten Baum geritzt, ein L , um das sich ein S schlängelte.
    Nun berührte Emeline mit ihrem lackierten Fingernagel die Buchstaben, ihre Fingerkuppe fuhr immer wieder die Kurven des S und die gerade Linie des L nach. Gebannt von der gleichförmigen Bewegung starrte er auf ihren Finger und fragte sich, wie es möglich sein konnte, dass sie genau zu dieser Stelle spaziert waren. Er hatte Emeline nicht unbewusst selbst hierhergeführt, da war er sich sicher.
    „Ich habe diese Initialen in den Stamm geritzt.“ Er erzählteEmeline von dem Picknick und beobachtete dabei ihr Gesicht. War sie überrascht von der Geschichte? Hatte sie davon gewusst? Er suchte nach einem Hinweis, aber ihr Gesichtsausdruck verriet nichts.
    Es musste eine logische Erklärung dafür geben, wie sie von der Stelle hatte wissen können. Vielleicht hatte Solange den Ort in einem ihrer Tagebücher gezeichnet, und Emeline hatte ihn unbewusst wiedererkannt.
    „Das klingt, als wäre es ein wundervoller Nachmittag gewesen“, sagte sie nachdenklich. „Frisch Verliebte

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