Der Visionist
bei einem Picknick im Park.“ Bei ihren ersten Worten hatte sie noch verständnisvoll geklungen, doch nun schlug sie einen sarkastischen Ton an. „Aber Sie haben alle störenden Flecken weggelassen. Kommen Sie, Lucian, versuchen Sie sich zu erinnern. War da nicht Schimmel auf dem Käse? Vielleicht ein Junge mit einem Ball, der die Weinflasche umgekickt hat? Hatte Solange Allergien und musste dauernd niesen?“
„Was soll das?“
„Sie haben dieses Picknick in ein Gemälde verwandelt, Lucian. Sie können nicht mehr sehen, wie es wirklich war. Alles ist verklärt, in Ihrer Erinnerung an die Zeit mit Solange scheint immer nur die Sonne.“
Mit seiner letzten Freundin hatte Lucian meistens darüber gestritten, dass er angeblich ein Workaholic sei. Aber bei ihrer schlimmsten und verletzendsten Auseinandersetzung war es um Solange gegangen. Gilly hatte in Lucians Schrank ein paar alte und sehr schlechte Bilder von Solange entdeckt. Sie hatte ihn gefragt, ob er die Bilder nicht wegwerfen wolle. Er hatte übermäßig scharf regiert, und sie hatte ihm praktisch dasselbe vorgeworfen wie jetzt Emeline.
Es macht nicht gerade Spaß, wenn man mit dem Geist einer neunzehnjährigen Sexbombe konkurrieren muss …
Er hatte alles abgestritten. Nie habe er sie oder irgendeine andere Frau mit Solange verglichen. Aber genau das tat erjetzt, nicht? Er schaute Emeline an, die ihn den Abhang hoch zu diesem einen Baum in dem großen Park geführt hatte, von dem nur er und Solange wussten. Er schaute sie an und verglich sie mit dem toten Mädchen aus seiner Erinnerung. Und was ihm auffiel, waren nicht die vielen Unterschiede, sondern das, was ihm an Emeline vertraut war. Aber war es nicht logisch, dass ihm Emeline vertraut vorkommen musste? Sie war in Solanges Wohnung aufgewachsen, sie war von Solanges Eltern erzogen worden. Es musste einfach Ähnlichkeiten geben, Dinge, die sie beide wussten.
Sonnenstrahlen blitzten durch das Blätterdach, und eine Böe ließ Blütenblätter auf Emeline regnen. Eigentlich war es ein wundervolles Bild, doch in ihren bernsteinfarbenen Augen lag eine unendlich bittere Einsamkeit. Diese Einsamkeit hatte nichts mit Solange zu tun, sie war ganz Emeline. Solange hatte nie ihre Familie verloren, und – bis zu ihrem Tod – hatte sie nie wirkliches Leid erfahren. Sie war gerade mal erwachsen geworden, mit dem Älterwerden hatte sie noch nicht angefangen.
Was dann passierte, war eine automatische, eine instinktive Reaktion. Lucian trat näher zu Emeline, er legte die Hände auf ihre schmalen Schultern und beugte sich vor. Sein leidenschaftlicher Kuss schob sie nach hinten, gegen den Baum. Er drückte sich mit seinem ganzen Körper an sie, und in den Geruch nach Gras und blühenden Magnolien mischte sich mit einem Mal ein anderer Duft – Maiglöckchen, Terpentin und Leinöl. Es war der Geruch von Solange, an den er sich erinnerte, und er verstand nicht, wie er ihn riechen konnte, doch dann öffnete Emeline ihre Lippen und erwiderte seinen Kuss, und er dachte an gar nichts mehr. Er spürte, wie ihre langen, schlanken Finger ihn an den Schultern packten und sie ihn mit unerwarteter Stärke noch enger an ihren Körper zog. Zwischen ihnen war nicht mehr der geringste Abstand, und er verlor sich in einer neuen Dimension, in der Vergangenheit undGegenwart verschmolzen mit dem Hauch von etwas Zartem, etwas Unverlässlichem … Er hatte vergessen, dass ein Kuss auch danach schmecken konnte – nach dem Versprechen einer gemeinsamen Zukunft.
Und dann wand sie sich mit einer so scharfen Bewegung aus seinen Armen, als hätte er sie gegen ihren Willen festgehalten. Ihr Blick war nicht fragend, sondern anklagend. „Ich bin nicht sie“, sagte sie.
„Das ist nicht der Grund, warum ich dich …“
„Doch, das ist der Grund. Ich spüre es doch, so wie du mich anfasst. Du suchst mit deinen Fingern und deiner Zunge nach ihr. Du willst sie riechen und schmecken. Aber das kannst du nicht, oder? Ich bin so geworden, wie sie mich wollten, um es ihnen recht zu machen. Und nun verfolgt sie mich mein ganzes Leben lang.“
Emeline liefen die Tränen übers Gesicht. Lucian hätte sie so gern wieder in den Arm genommen, aber er hielt sich zurück. „Ich werde nie wissen, wer ich hätte sein können – ohne ihren Schatten über mir.“ Ihre Stimme war brüchig und voller Wut. Sie schleuderte ihm die Worte mit solch einer Heftigkeit entgegen, dass Lucian dachte, sie müssten an ihm zersplittern. „Aber das alles macht mich
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