Der Visionist
zweitausend Jahren ausgerechnet hier wieder vereint würden, Tausende von Kilometern von dem Ort entfernt, an dem ihre Reise begann.“
Aber bei der Arbeit an der Rotunde hatte Victor jede Menge Zeit gehabt, die Proportionen der Skulptur zu studieren. Er war davon überzeugt, dass sie für genau diesen Tempel angefertigt worden war. Um seine Theorie zu beweisen, hatte er den Tempel ausgemessen und entdeckt, dass das steinerne Gebäude und die Statue nach dem Goldenen Schnitt, der Formel des griechischen Philosophen und Mathematikers Pythagoras, perfekt zusammenpassten. Er hatte es Miss Mitchell noch nicht erzählt, hatte sich aber vorgenommen, es ihr demnächst zu sagen.
Victor war in einer religiösen Familie aufgewachsen und war Ministrant gewesen, aber erst, als er seine Arbeit am Met begonnen hatte, war ihm klar geworden, dass es nicht die Liturgie, der Gottesdienst oder die Vorstellung von Gott an sich war, was er an der Kirche liebte. Es war vielmehr das Gebäude, das seinen Geist beflügelte – die hohen Decken, die eindrucksvollen Bleiglasfenster, die bunte Lichtstreifen auf seine Hände malten, wenn er sie im richtigen Winkel ausstreckte, und die eleganten gemeißelten Ornamente. Er hatte nie eine Kirche gebaut, aber er hatte oft das Gefühl, dass seine Arbeit im Met fast so etwas war. Die Sammlungen und Ausstellungen hier bargen Kunstwerke, die nicht nur im Namen eines einzigen Gottes erschaffen worden waren, sondern im Namen aller Gottheiten, antiker wie moderner. Hier gab es genauso viel Heiliges wie in einer Kathedrale.
Nach Feierabend war Victor auf die Straße hinausgegangen und kurz stehen geblieben, um sich eine Zigarette anzuzünden. Es war eine schlechte Angewohnheit, aber er schaffte es einfach nicht, aufzuhören. Gerade als er vom Bordstein auf die Straße trat, brauste urplötzlich ein Bus an ihm vorbei. Er hatte ihn nicht kommen sehen – seine Augen waren auf die Flamme des Feuerzeugs gerichtet gewesen. Der Bus hätte ihn fast umgefahren. Er sah ihm kopfschüttelnd nach, inhalierte den Rauch und spürte, wie ihn der erste Kick des Nikotins durchströmte. Dann ging er zur U-Bahn.
Als er hinunter auf den Bahnsteig ging, zog Victor seine Minikopfhörer aus der Tasche und steckte sie sich in die Ohren. Er hörte gerade einen Krimi von Steve Berry und stieg wieder dort ein, wo er am Morgen abgebrochen hatte. Der Erzähler las gerade mit angespannter Stimme eine wichtige Szene vor: Malone packte seine Automatik und wartete. Er riskierte einen Blick aus der Nische, in der er und Pam sich versteckten.
Als er den Bahnsteig hinunterging, kam er an einer kleinen Frau mit rotblondem Haar vorbei, die enge Jeans und eine Designerhandtasche trug. Er blieb in zwei Metern Entfernung von ihr stehen, wo es leer und ruhig war.
Der Schatten wurde immer größer, als der Killer näher kam.
Ein Mann Mitte zwanzig kam in Victors Richtung. Es war nichts Ungewöhnliches an ihm – ausgebeulte Hosen, Joggingschuhe mit offenen Schnürsenkeln, ein übergroßes grünes T-Shirt, ein paar dicke Goldketten um den Hals, ein Baseballcap und ein Rucksack. Er kam fast bis zu Victor, blieb dann aber vor einem Filmplakat an der Wand stehen, auf dem ein Mann abgebildet war, der an einem Fenster stand und mit einer Pistole auf den Betrachter zielte. Der Junge zog einen Vierteldollar aus seiner Tasche und begann, ihn in die Luft zu werfen und wieder aufzufangen.
Als Victor die Münze in der Beleuchtung der U-Bahnstation aufglänzen sah, bebte es leicht durch seine Schuhsohlen.Man konnte den Zug immer schon eine volle Minute vorher spüren, bevor die Lichter im U-Bahntunnel auftauchten.
Wieder warf der Junge die Münze in die Luft, höher dieses Mal. Er ging einen kleinen Schritt zurück, um sie wieder aufzufangen.
Er fragte sich, ob sein Angreifer wusste, dass es keinen anderen Ausgang gab. Wahrscheinlich nicht. Denn warum würde er sonst immer weiter vordringen? Sie saßen doch praktisch schon in der Falle.
In etwa drei Metern Entfernung bewegte sich ein älterer Mann in dreckigen Khakihosen und einem schmutzigen weißen Hemd mit Schweißflecken unter den Achseln. Er ging schwankend auf das Ende des Bahnsteigs zu. Victor spähte in den dunklen Tunnel nach dem ersten Lichtschein der Zugscheinwerfer. Der Boden vibrierte unter seinen Füßen, die U-Bahn musste jeden Moment einfahren.
Der Junge mit dem Rucksack warf die Münze dieses Mal noch höher und hätte sie fast nicht mehr aufgefangen. Der verwahrloste Mann, der
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