Der Visionist
Haben Sie Interesse, bei uns vorbeizuschauen und mit uns zu reden?“
Er wünschte, er könnte Ja sagen. Es würde sein Leben verdammt viel einfacher machen, auf seine Prinzipien und seine Loyalität gegenüber Henry Philips zu pfeifen und so einen Bonus zu kassieren – nur dass es hier nicht wirklich um Prinzipien oder Loyalität ging, oder? Es ging darum, wohin er jeden Tag zum Arbeiten ging und was er dort machte. Er war nicht darauf festgelegt, die immer gleichen Wohnblöcke oder Banken zu bauen. Er hatte sein Arbeitsleben damit verbracht,das Metropolitan Museum of Art wieder aufzubauen. Er hatte etwas getan, das ihm etwas bedeutete, ihn mit Stolz erfüllte. Hochmut kommt vor dem Fall, dachte er und lächelte bei der Erinnerung an die Marotte seines Vaters, immer kleine Predigten zu halten, wenn er eine wichtige Entscheidung treffen musste.
„Kein Interesse.“
„Tut mir sehr leid, das zu hören, Victor.“
„He, Keither, wir haben da ein Problem mit diesen Leitungen, die stehen nicht auf dem Plan.“ Sein Bauingenieur hatte ihn gefunden und stand mit finster gerunzelter Stirn und einem Stapel Blaupausen im Eingang.
„Ich muss zu meiner Arbeit zurück, Mr Wyman.“
Am Ende seines Arbeitstages blieb Victor wie immer hinter seinem Team zurück, ging noch einmal die gesamte Ausstellungsfläche ab und inspizierte langsam und methodisch alle Zimmer- und Maurerarbeiten des Tages. Er machte sich mit dem Bleistift Notizen auf seinem gelben Notizblock und blieb ab und an stehen, um mit blauer Kreide Markierungen an der Wand anzubringen. Wie jeden Tag in den letzten drei Wochen dauerte seine Inspektion länger als gewöhnlich. Das war noch etwas, was er den häufigen Wechseln im Team zu verdanken hatte. Damit war zwar zu rechnen, doch es bedeutete nicht, dass er es akzeptierte oder schätzte. Er hatte seine Bautrupps immer sorgfältig zusammengestellt und die Schwächen des einen mit den Stärken eines anderen ausgeglichen. Aber jetzt, wo so viele absprangen, entstanden einfach Lücken.
Schließlich erreichte er den Raum, den er sich jeden Abend bis zum Schluss aufhob, den Raum, in den er sich am Nachmittag zurückgezogen hatte, um Wymans Anruf entgegenzunehmen. Er setzte sich auf die Holzkiste in der Mitte des runden Gebäudes, das den Übergang von der Islam- zurZypernausstellung bilden würde. Victor legte seine Hand auf einen der kalten Granitblöcke. Vor diesem Job hatte er noch nie von einem Schlaftempel gehört, aber er hatte im Lexikon nachgesehen. Ruinen solcher frühen Krankenhäuser waren im alten Ägypten, dem Mittleren Osten und Griechenland gefunden worden, manche von ihnen viertausend Jahre alt. Laut antiker Texte suchten Kranke und Leidende Heilung in ihnen. Statt Ärzten behandelten Priester die Kranken und setzten Gesänge, Gebete und faszinierende Objekte ein, um sie in Trance zu versetzen. Sobald die Patienten in einen tiefen, meditativen Schlaf gefallen waren, wirkten die heiligen Männer suggestiv auf ihr Unterbewusstsein ein. Sobald sie erwachten, analysierten die Priester ihre Träume und verordneten ihnen Behandlungen für ihre Krankheiten – sowohl physische wie psychische. Es war der früheste bekannte Einsatz der Hypnose.
In Griechenland waren die meisten dieser Tempel zu Ehren von Äskulap, dem Gott der Medizin, errichtet worden, aber einige wenige auch zu Ehren des Hypnos, des Schlafgottes. Die Steine verrieten nicht, welchem Gott dieser Tempel einst geweiht war, aber das Museum plante, eine Skulptur des Hypnos aus der eigenen Sammlung darin aufzustellen.
Als Deborah Mitchell, eine Kuratorin der Abteilung für Islamische Kunst, Maße für den Sockel der Statue von ihm haben wollte, hatte Victor die seltene Gelegenheit gehabt, den kolossalen Gott aus dem fünften Jahrhundert vor Christus selbst zu sehen.
Hypnos war unvollständig, und ihm fehlten fast all seine dekorativen Elemente, aber Victor war von seiner monumentalen Wirkung verblüfft gewesen und fasziniert von seinem immer noch intakten Auge, einem Kreis aus Obsidian mit Intarsien aus Elfenbein und moosgrünem Chalzedon. Es schien irgendwie nicht ganz menschlich, aber es wirkte lebendig. Oder fühlte er selbst sich lebendiger, wenn er in das Augeblickte? Deborah hatte ihm erzählt, dass Hypnos höchstwahrscheinlich für einen Schlaftempel erschaffen worden war, jedoch bestimmt nicht für diesen Tempel, den sie gerade rekonstruierten. „Das wäre doch ein zu großer Zufall“, hatte sie gemeint, „dass sie nach
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