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Der Vogelmann

Der Vogelmann

Titel: Der Vogelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Essex sah durch die Eichen von Stepney Green zuerst auf eine Reihe mit hellen Ziegeln gedeckter georgianischer Häuser, die frisch gestrichen und der ganze Stolz ihrer mit Aktien handelnden Besitzer waren, und dann auf den roten viktorianischen Backsteinbau, in dem Harrison wohnte. Jahrelange Luftverschmutzung hatte ihn geschwärzt, und beim Vorstoß der wohlhabenden Schichten war er vergessen worden. »Ich weiß, daß Sie ihn nicht für unseren Täter halten.«
    Caffery blieb stehen und zog die Handbremse an. »Natürlich nicht.«
    »Also, was glauben Sie?«
    »Weiß nicht.« Er kurbelte das Fenster hoch, stieg aus und wollte gerade die Tür schließen, als er zögerte und den Kopf wieder ins Wageninnere steckte. »Unser Täter besitzt ein Auto, das steht fest.«
    »›Er hat ein Auto.‹ Ist das die Lösung?« Essex hievte sich aus
dem Jaguar und knallte die Tür zu. »Haben Sie keine bessere Theorie als ›er hat ein Auto?‹«
    »Nein«. Er ließ die Autoschlüssel kreisen und steckte sie dann in die Tasche. »Noch nicht.«
    In Harrisons Haus war der Lift kaputt, also gingen sie die vier Stockwerke zu Fuß hinauf, und Caffery blieb einmal stehen, um Essex aufholen zu lassen.
    Steve Maddox hatte Caffery über Paul Essex bereits informiert. »Jedes Team braucht einen Witzbold. In Team B haben wir Essex. Er zieht die Burschen gern auf; behauptet, er gehe abends heim, ziehe sich ein Babydoll über und erledige so das Staubsaugen. Das ist natürlich Blödsinn. Hören Sie sich’s an, aber fallen Sie nicht drauf rein, nehmen Sie ihn ernst. Man kann sich absolut auf ihn verlassen, er ist der Stützpfeiler des Teams, er würde sich den rechten Arm abhacken lassen …«
    Und langsam begann Caffery, an die Qualitäten dieses Dragonerpferds von einem Mann zu glauben. Er erkannte sie vor allem daran, wie die Frauen Essex behandelten: wie einen verwundeten alten Bären. Sie flirteten mit ihm und neckten ihn, setzten sich auf seinen Schoß und gaben ihm kleine Klapse als Antwort auf seine Scherze. Aber vielleicht wußten sie insgeheim, daß seine Gefühle tiefer reichten, als ihre es vermochten; im Alter von siebenunddreißig Jahren lebte Essex noch immer allein. Caffery hatte deswegen manchmal Schuldgefühle, weil sein eigenes Leben, verglichen mit dem seines Kollegen, so leicht und unbeschwert war. Selbst in diesem Moment traten seine physischen Unzulänglichkeiten offen zutage: Caffery kam bei Harrison frisch und einsatzbereit an, Essex schleppte sich die letzten paar Stufen herauf und blieb am Ende der Treppe schwitzend stehen. Er zupfte an seinem Kragen und zerrte an seiner Hose, die an seinen Beinen klebte. Er brauchte mehrere Minuten, um sich zu erholen.
    »Sind Sie soweit?«
    »Ja«, sagte er nickend und wischte sich über die Stirn. »Nur zu.«

    Jack klopfte an Harrisons Tür.
    »Was is’?« Die Stimme aus der Wohnung klang schläfrig.
    Caffery beugte sich zum Briefkastenschlitz hinunter. »Mr. Harrison? Barry Harrison?«
    »Wer is’n da?«
    »Detective Inspector Caffery.« Er warf Essex einen schnellen Blick zu. Sie rochen den süßlichen Duft von Marihuana. »Wir hätten gern kurz mit Ihnen gesprochen.«
    Ein Zischen und das Geräusch eines Körpers, der sich aus dem Bett schwang. Dann das Rinnen eines Wasserhahns. Eine Toilettenspülung wurde gezogen, und die Tür ging auf. Die Sicherheitskette teilte ein Gesicht mit hervorquellenden blauen Augen und Stoppelbart in zwei Hälften.
    »Mr. Harrison?« Caffery zückte seinen Ausweis.
    »Was gibt’s?«
    »Können Detective Sergeant Essex und ich reinkommen?«
    »Wenn Sie mir sagen, warum, schon.« Er war dünn, mit Sommersprossen übersät und von der Taille aufwärts nackt.
    »Wir möchten mit Ihnen über Shellene Craw reden.«
    »Sie is’ nicht da, Mann. Schon seit Tagen nicht mehr.« Er wollte die Tür schließen, aber Caffery lehnte sich mit der Schulter dagegen.
    »Ich möchte über sie reden, nicht mit ihr.«
    Harrison musterte zuerst Caffery und dann Essex, als wollte er abschätzen, wer bei einer Schlägerei besser abschneiden würde. »Hör’n Sie, wir beide ham nix mehr miteinander zu tun. Wenn sie Schwierigkeiten hat, tut’s mir leid, aber wir war’n nicht verheiratet oder so was, klar, also bin ich nicht verantwortlich für sie.«
    »Wir halten Sie nicht lange auf, Sir.«
    »Sie lassen wohl nicht locker, was?«
    »Nein, Sir.«
    »Ach, verdammte Scheiße.« Die Tür ging zu, und die Sicherheitskette wurde ausgehängt. »Also bringen wir’s hinter

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