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Der Vogelmann

Der Vogelmann

Titel: Der Vogelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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fuchsartiges Gesicht zusammen und wurde vom Halsansatz aus rot. »Hier.« Sie öffnet die Akte. »Brazil Street 34A, das ist in Lewisham. Und dann gibt es noch das frühere Haus seiner Mutter, sie ist letztes Jahr gestorben und hat ihm ein Cottage in Kent hinterlassen; Wildacre Cottage. Hier ist die Adresse und die Telefonnummer, falls Sie sie bauchen.«
    Essex schrieb die Einzelheiten auf, und Wendy sah ihn durch ihre Brillengläser verständnislos an.
    »Er hat immer unter dem Schreibtisch seinen Reißverschluß geöffnet«, platzte sie heraus und setzte sich unvermittelt nieder. »Wenn Sie wissen, was ich meine, und er hat sich gerieben, wenn er mit Frauen sprach. Sie konnten es von der anderen Schreibtischseite aus nicht sehen. Aber ich schon.« Sie zog ihr Taschentuch aus dem Ärmel und preßte es einen Moment lang an ihre Lippen. Ihre Hand zitterte. »Ist er deswegen in Schwierigkeiten?«
    »Wegen so was in der Art«, sagte Essex. »Wegen so was in der Art.«
     
    Der Schlag mit der Elektrosäge hatte ein kleines Hämatom auf Rebeccas Hinterkopf hinterlassen, was sie zuweilen benommen
machte und ihr manchmal Schmerzen verursachte, wenn sie das Kinn nach unten beugte. Aber ihr Denkvermögen war unbeschadet, und im selben Moment, in dem sie zu sich kam, wußte sie genau, was los war.
    Am Anfang lag sie ganz still da und stellte sich in allen Einzelheiten vor, was Bliss getan hatte. Er hatte ihr die Shorts und die Unterwäsche ausgezogen und ihr dann, von den Zehen bis zur Mitte der Schenkel, die Beine mit irgendeinem Klebeband zusammengebunden. Das T-Shirt hatte er ihr angelassen und sie mit an den Bauch gepreßten Händen auf die Seite auf den Boden gelegt. Als sie sie zu bewegen versuchte, stellte sie fest, daß auch ihre Finger umwickelt waren, jeder einzelne, um ihn von den anderen abzutrennen.
    Und Bliss war hier. Etwa fünf Meter von ihrem Gesicht entfernt. Leicht rechts von ihr. Sie konnte ihn hören und riechen. Er führte leise Selbstgespräche, murmelte vor sich hin, im Singsang, lächerlich.
    Wahnsinnig. Er ist wahnsinnig, Becky. Und du wirst sterben.
    Eine Folge von Verwünschungen, immer im gleichen Rhythmus, um sich zu beruhigen, sich zu überzeugen, eine einseitige Konversation; Bliss gehorchte seiner eigenen perversen Logik.
    Sie strengte sich an, versuchte, sein zusammenhangloses Gefasel zu verstehen, versuchte, die verschiedenen Klangarten zu erfassen, um die Größe und das Klima des Raums zu erspüren. Sie befanden sich nicht mehr in der Wohnung. Das sagte ihr die andersartige Luft, die andere Akustik. Es war still hier. Nur Vogelgesang draußen. Keine Züge, keine Autos, kein Innenstadtlärm. Hier war es so friedlich wie in einem Schlafzimmer ihrer Kinderzeit. Also in einem Vorort? Oder auf dem Land? Vielleicht Meilen von anderen Häusern entfernt, und niemand wußte, wo sie war.
    Das Gefasel hörte auf. Rebecca hielt den Atem an und lauschte angestrengt. Erst als sie ganz sicher war, daß Bliss das Zimmer verlassen hatte, öffnete sie die Augen und atmete endlich aus.

    Der Raum war dämmerig und hatte etwa die Größe, die sie vermutet hatte. Sonnenlicht strich über die Muster der geschlossenen Vorhänge, die mit Pfingstrosen, Vögeln und Pfauenfedern bedruckt waren. Hinter Schwingtüren befand sich eine abgedunkelte Küche. Im Vordergrund, weniger als zwei Meter von dem Ort entfernt, an dem sie lag, standen sechs blaßrosafarbene Lloyd-Loom-Stühle um einen Tisch aus Bambus und Glas, auf dem sich ein Pappteller, eine Flasche Cherry Brandy, Partyhüte und ein halbaufgegessener Geburtstagskuchen befanden. Und wie eine Versammlung faszinierter Zuschauer hingen, knisternd und zitternd, eine Menge Luftballons an der Decke. Knallrosa, lavendelblau und sonnengelb, sie drängten sich aneinander, machten sich gegenseitig den Platz an der Decke streitig, die Schnüre hoben sich träge in der kühlen Luft, und Joni, oder was von Joni noch übrig war, lehnte in einem der Korbstühle. Das starke Klebeband, mit dem sie umwickelt war, hielt sie aufrecht, aber sie war tot.
    Tot? Sie muß tot sein, wenn sie so aussieht, muß sie…, dachte Rebecca. Dann flüsterte sie: »Joni?«
    Schweigen. Joni hatte ihr das Profil zugewandt, sie war nackt und mit Wunden übersät, und der Kopf sank ihr auf die Brust. Auf den Tisch waren ein Stück Geburtstagskuchen und ein Champagnerglas gestellt worden. Eine kleine Papierserviette war über ihren Schoß gebreitet, und ihr Haar war zu einem Pony geschnitten worden.

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